Venedig ächzt. Zuvorderst unter der Hitze, die diesen Sommer bis in die Nachtstunden so unbarmherzig drückt wie lange nicht mehr. Fünf Minuten nach dem Duschen könnte man das Hemd schon wieder wechseln. Selbst durch die klimatisierten Kinosäle wabern Duftschwaden. Die morbide bröckelnde Schönheit der Stadt zerfliesst im Schweiss.
Noch heisser sind höchstens die Sexszenen in «Queer» nach dem vielfach skandalisierten Roman des Beat-Literaten William S. Burroughs, einer der Aufreger-Beiträge im Wettbewerb. Selten hat man in einer Mainstream-Produktion homosexuelle Liebe so explizit, so lustvoll gesehen. Auch wenn Daniel Craig zielsicher auf die sechzig zuschreitet, staunen nicht nur seine wechselnden Partner im Film über den lasziv in die Kamera gehaltenen Po und die «Bond»-gestählten Bauchmuskeln.
Craig taumelt als einsamer, entzugsleidender Junkie William Lee mit Tequila und Pistole durch ein (ebenfalls heisses, kulissenhaftes) México City der 1950er-Jahre, auf der Suche nach Sex und der Wunderdroge Ayahuasca. Er findet beides, den Rausch im Dschungel und die Beziehung mit dem viel jüngeren, doch etwas farblosen Eugene Allerton (Drew Starkey). Regisseur Luca Guadagnino («Challengers», «Call Me By Your Name») wollte den schlafwandlerischen Trip schon seit Jugendtagen verfilmen; heute wirkt der mit einigen Längen behaftete Film trotz passendem Pop-Sound leicht aus der Zeit gefallen.
Doch nicht nur der Glutball der Sonne verwandelt die Festivalbesucher in Zombies mit krausen Haaren und geröteten Gesichtern. Kannibalistisch geht es auch im öffentlichen Verkehr zu. In Venedig ist das Boot wörtlich voll. Wer nicht das Glück hat, nahe beim Veranstaltungsort auf dem Lido zu wohnen, wo kurz vor Festivalbeginn noch Unterkünfte für 58’000 Franken angeboten wurden, muss sich in Vaporetto und Bus drängen. Die grosse Ausnahme vom erhöhten Stresspegel ist der heimliche Held des Festivals, ein Mann vom Einlass, der jedes Mal so überschwänglich grüsst, als brächte man ihm sein erstes Enkelkind mit.
Ein Mann, der ebenfalls auffallend lacht – obwohl er überhaupt nichts zu lachen hätte – ist Arthur Fleck aka der Joker. Angeblich kann er nicht anders, leidet an einer Krankheit, die ihn in unpassenden Situationen in hysterisches Gelächter ausbrechen lässt. Der Hobbyclown mit dem speziellen Humor hat sich eine Fantasiewelt aufgebaut, in der er als erfolgreicher Komiker die eigene Misere weglachen kann.
Belogen von der Mutter, missbraucht von Vaterersatz-Figuren, getreten von Passanten, verspottet von seinem Idol, einem Fernsehcomedian: Arthur ist der ultimative Prügelknabe in Gotham City, das schneller in Dreck und Korruption versinkt als die venezianische Altstadt im Meerwasser. Als das Opfer schliesslich zum Täter wird und als Joker mörderische Selbstjustiz ausübt, entsteht sogleich eine revolutionäre Bewegung in den Strassen.
«Joker» von Regisseur Todd Phillips spaltete die Kritik. Manche erblickten ein ungewöhnlich ernstes Antidot zum Superheldenfilm, einen Nachfolger von «Taxi Driver». Andere fanden die Handlung banal und aufgesetzt. Dass nun die Fortsetzung namens «Folie à Deux» am Lido ihre Premiere feiert, ist kein Zufall. «Joker» startete in Venedig seinen rasanten Erfolg, holte im Spätsommer 2019 zuerst den Goldenen Löwen. Ein halbes Jahr später gab es bei stattlichen elf Nominierungen immerhin zwei Oscars: für Hauptdarsteller Joaquin Phoenix und Komponistin Hildur Guðnadóttir.
Im zweiten Teil, einem Thriller mit Musical-Elementen, sitzt der schweigsame, noch arger abgemagerte Clown im Arkham Asylum. Dort reisst er keine Witze mehr, egal, wie sehr die Wächter mit Zigaretten locken. Eine TV-Doku hat seinen Fall landesweit bekannt gemacht, der Prozess des Jahrhunderts steht an. Die mitfühlende Anwältin will auf Unzurechnungsfähigkeit wegen Schizophrenie plädieren. Mit Harleen Quinzel (Lady Gaga) hat sich ein Groupie in das gefängnishafte Sanatorium eingeschlichen, das Arthur beim Musizieren kennenlernt und in das er sogleich als Seelenverwandte erkennt.
«Just like me they long to be close to you», singt sie, die in dem Gebrochenen etwas bergen will, von dem nicht einmal er weiss, ob es in ihm steckt. Lady Gaga spielt die amoralische Geliebte des Jokers sehr natürlich, doch viel mehr als ein schön anzusehender Wunschtraum darf sie nicht sein. Schade, man hätte gerne mehr von ihr gesehen.
Auch die Musical-Elemente tragen recht wenig zum Film bei. Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum, sagte Nietzsche. Und so sind die ungeschliffen rauen Songs – vornehmlich aus dem US-Pop und Rock’n’Roll der Fünfziger bis Siebziger – schlicht der letzte Rettungsanker im Kopf des Jokers.
Das Problem an der Fortsetzung ist nicht, dass sie völlig uninspiriert wäre, selbst wenn sie öfter auf Bilder wie die berühmte Treppenszene aus Teil eins zurückgreift. Im Gegenteil, Dutzende Fragen werden in Dutzende Richtungen verschossen: Ist der Joker verrückt, oder tut er nur so? Wie verschieden reagieren diejenigen auf ihn, die sich von seiner Verzweiflung haben anstecken lassen? Wo verlaufen welche Grenzen zwischen Innenleben, Projektion, medialer Darstellung und der harten Realität?
Bereits am Anfang wird in einer animierten Comic-Sequenz auf Hans Christian Andersens Märchen vom Schatten angespielt, der die Kontrolle über seinen Herrn an sich reisst. Doch von da an wird einfach die Formel «Wahnsinn gebiert weiteren Wahnsinn» ausgedehnt; ein Problem, das schon der erste «Joker» hatte. Auch «Folie à Deux» ist vor allem scheinkomplex, erzählt wenig richtig aus und bleibt zu nahe bei seinem Protagonisten. Das hätte man kürzer haben können als 138 lange Minuten, nach denen man noch müder in die gleissende Nachmittagshitze entlassen wird
«Joker» startet am 3. Oktober in den Schweizer Kinos. «Queer» hat noch keinen Starttermin.