Beim Netflix-Hit «Wake Up Dead Man» dreht sich Agatha Christie begeistert im Grab!
Wer war nicht schon alles mit Hugh Grant verheiratet! Nicole Kidman in «The Undoing», Meryl Streep in «Florence Foster Jenkins», Julia Roberts quasi nach dem Abspann von «Notting Hill», Andie MacDowell in «Four Weddings and a Funeral», Daniel Craig in «Glass Onion: A Knives Out Mistery» ... und wenn sie nicht geschieden sind, dann auch noch in «Wake Up Dead Man: A Knives Out Mystery».
Gut, wir wissen es nicht, vielleicht hat Meisterdetektiv Benoit Blanc (Craig) seinen Philipp (Grant) inzwischen verlassen, vielleicht ist Philipp gestorben, vielleicht wird er in einer vierten Folge der «Knives Out»-Reihe wieder erscheinen, es ist egal. Denn wir sind hier nicht im «Tatort», wo das Privatleben der Ermittelnden oft eine grössere Rolle spielt als die Fälle, wir sind hier mitten im Herzen des Agatha-Christie-Nachbebens, das die Krimiwelt seit ein paar Jahren wieder fest im Griff hat: Hier ist der Fall der Fall. Und nirgendwo ist dieses Universum so grossartig, so komisch, so klug, so restlos prächtig besetzt wie in den bisher drei «Knives Out»-Filmen des 52-jährigen Drehbuchautors und Regisseurs Rian Johnson. Eines Kaliforniers, dessen Kreativität im Babystadium irgendwann mit britischer Muttermilch genährt worden sein muss.
Gut, «Glass Onion», der Corona-Krimi auf einer Luxusinsel war eher Bond als Agatha Christie, doch mit Benoit Blancs drittem Fall ist Johnson an den Ort zurückgekehrt, der Christies allerliebster Sündenpfuhl war: die scheinbar gottesfürchtige provinzielle Kirchgemeinde.
Ein junger Priester (Josh O'Connor), der im vorklerikalen Leben als Boxer einen Mann im Ring getötet hat, wird nach Upstate New York versetzt, Chimney Rock heisst sein neuer Bestimmungsort. Er selbst heisst Jud Duplenticy, ein Name, der kein Vetrauen auslöst – Jud wie Judas, Duplencity wie Duplicity, Zweideutigkeit. Sein Arbeitsbeginn ist ausgerechnet die Osterwoche, jenes Wimmelbild der stärksten biblischen Geschichten: Letztes Abendmahl, Verrat, Kreuzigung, Auferstehung aus einem verschlossenen Grab.
Womit wir bereits beim Kern des Verbrechens wären, das geschehen wird: Es ist nämlich ein Locked-Room-Mystery, ein Verbrechen, das in einem geschlossenen Raum stattgefunden hat, was technisch unmöglich ist. Quasi in einem verschlossenen Grab. Wofür es wiederum ein von Benoit Blanc zitiertes literarisches Vorbild gibt, nämlich «The Hollow Man» von John Dickson Carr. Der geschlossene Raum ist der innerste von weiteren Räumen die für den Kriminalfall wichtig sind, die Kirche, eine Bibliothek, ein Keller, ein Mausoleum. Vom Locked Room geht es direkt in jene geschlossenen Gesellschaften, welche die Franzosen Huis Clos nennen. Was in Chimney Rock geschieht, bleibt in Chimney Rock, es gibt da keine Verbindung zur grossen weiten Welt. Oder doch?
Neben der kriminaltechnischen Anordnung und den damit verbundenen Wegen zur Lösung ist die Kirchgemeinde selbst sowas wie ein Spiegelkabinett der aktuellen amerikanischen Gesellschaft. Es ist höchst raffiniert, wie sich Duplencitys Vorgesetzter Monsignor Jefferson Wicks (Josh Brolin) während seiner Predigten in einen MAGA-Demagogen verwandelt, wie der Tarnmantel seines religiös verbrämten Vokabulars immer durchsichtiger wird. Spätestens mit dem Motto «There's GOD in DOGE» eines Möchtegern-Jungpolitikers und Influencers wird klar, wo wir stehen. Die Kirche als Ort der Manipulation, Aufwiegelung, Radikalisierung, alles vollzieht sich ganz organisch, der Fluss der Verführung ist breit und reissend. Und dann geschieht der unmögliche Mord.
Während Benoit Blanc den Kriminalfall löst, versucht Duplencity den Glauben an den christlichen Glauben zu retten. Denn der ist für ihn tatsächlich eine Notwendigkeit, auch wenn Blanc dies wiederum kaum glauben kann. Und so, wie man Daniel Craig den superschlauen Detektiv abnimmt, der in der Nachfolge von Hercule Poirot mit intelligenter Kombinatorik und allein Kraft seines Gehirns Schurken zu überführen weiss, glaubt man Josh O'Connor sein Ringen um ein gottgefälliges Leben und eine menschenwürdige Kirche.
Beiden schaut man wahnsinnig gerne zu, aber O'Connor noch ein bisschen lieber, verrückt, was der Mann alles mit seinem Gesicht anstellen kann, wie aussagekräftig jeder Blick, jedes Muskelzucken ist, wie zuweilen unberechenbar, verwundbar und dennoch von einem inneren Leuchten durchdrungen er scheint. Craig ist dagegen der coole, elegante Exzentriker mit Südstaatendialekt. Benoit Blanc sei ihm tausendmal lieber als Bond, sagte er neulich, die Rolle tue körperlich so viel weniger weh – aufs Alter hin muss man sowas schon bedenken.
Und dann ist da noch der Rest dieses umwerfenden Ensembles: Andrew Scott als verschwörungsfreudiger Science-Fiction-Autor, Glenn Close als gespenstische Kirchensekretärin, Jeremy Renner als Arzt in bester Agatha-Christie-Manier, Cailee Spaeny als Kranke, die auf ein Wunder wartet, oder Kerry Washington als Anwältin mit einem Geheimnis. Natürlich bleiben viele von ihnen neben Blanc und Duplencity Miniaturen, doch immerhin gleichen sie einer Auswahl an vorzüglich gefüllten kleinen Pralinen.
Und so geniesst man dieses unterhaltsame, intelligente Weihnachtsgeschenk und freut sich schon auf ein nächstes. Vielleicht wieder in drei Jahren? Bestätigt ist noch nichts. Auch nicht Hugh Grants mögliche Teilnahme. Ach ja, in «Glass Onion» trat er auf die Minute exakt in der Mitte des Films auf. Was das nun aussagt? Nichts, absolut nichts, just saying.
Die beiden «Knives Out»-Filme «Wake Up Dead Man» und «Glass Onion» laufen beide auf Netflix, «Knives Out» (Teil eins) läuft auf Apple TV.
- Ohne seine geliebte Michele hätte Rob Reiner «Harry und Sally» kein Happy End geschenkt
- Basler Filmproduzent und Oscar-Preisträger Arthur Cohn gestorben
- 23 Filme, Dokus und Serien, die wir 2025 geliebt haben
- Egal, ob Netflix oder Paramount Warner kauft – es wird eine Katastrophe
- Zum Tod von Udo Kier: «Madonna und ich ritten auf nackten Männern»
