Als die abgeschnittene Zunge im japanischen Horrorfilm «Audition» noch eine Weile quicklebendig über den Boden hüpfte, da habe ich das Kino verlassen. Das war 2001. Und als die junge Frau in «Titane», die später im Film mit ihrem Auto kopulieren sollte, worauf ich eigentlich gespannt war, sich selbst in einem irren Furor das Gesicht zermantschte, um nicht mehr erkannt zu werden, habe ich ebenfalls aufgegeben. Das war 2021. Sonst habe ich nicht viele Probleme mit Horrorfilmen und Körperlichkeit.
Die perversen Organ-Züchtungs-Experimente in David Cronenbergs «Crimes of the Future» – gediegen. Die nicht ganz so kunstvoll gemachten, aber originell gedachten Duplizierungsversuche in Brandon Cronenbergs «Infinity Pool» – cool. Die Laubsägearbeit von «Saw» – meinetwegen. Womit ich jedoch ernsthaft Mühe habe: ganz normale Operationsszenen in ganz normalen Ärzteserien. Vielleicht, weil sie naheliegender sind als die surrealen Welten von Horrorfilmen. Da muss ich wegschauen.
Aber noch nie musste ich so oft wegschauen und mir zugleich auch noch die Ohren zuhalten wie jetzt bei «The Substance» von Coralie Fargeat. Möglicherweise war dies der grusigste Film, den ich jemals gesehen habe, und ich kann ihn nur äusserst hartgesottenen Anhängerinnen und Anhängern des Genres Body Horror empfehlen. Wie viele werden das sein in der Schweiz? 70? 700? 7000 wie bei «Titane», die meisten davon in der Romandie? Was sagt uns das über den Röstigraben?
Doch wer auch immer ihr sein mögt, ich gratuliere euch zu eurem stabilen Magen, denn nach «The Substance» sass ich ratlos vor meinem Teller und suchte nach Möglichkeiten der Autosuggestion, weil das Stück Fleischkäse darauf Ähnlichkeiten mit ... Aber von vorn!
Demi Moore spielt Elisabeth Sparkle, eine Hollywood-Diva, die früher mal sparkelte und es heute, über 50, nur noch in Aerobic-Videos fürs Fernsehen tut. Bereits in der Wortspielerei mit dem Namen Sparkle zeigt sich: Achtung, dieser Film setzt echt nicht auf Subtilität, aber total auf Oberfläche. Und weil Elisabeth in ihrem auf Oberflächenreize fixierten Business nun mal als alte Schachtel gilt, wird sie von ihrem Boss (Dennis Quaid) entlassen.
Ein viel zu gut aussehender junger Arzt macht sie mit einem neuen Verfahren bekannt, die dafür nötigen Geräte und Medikamente gibt es nur im Untergrund: Menschen, deren Unzufriedenheit mit sich selbst überhand nimmt, können sich via Zellteilung multiplizieren und eine «bessere», also jüngere, schönere Version ihrer selbst schaffen. Das alte und das neue Selbst sind jedoch voneinander abhängig, einer der beiden Körper fällt immer eine Woche lang in ein regeneratives Koma, während der andere das volle Leben lebt.
Und so gebiert Elisabeth aus ihrem Rücken heraus die wunderschöne junge Sue (nach «Poor Things» spielt Margaret Qualley schon wieder ein aus wissenschaftlichen Versuchen geborenes Geschöpf). Alles, was Sue braucht, ist eine tägliche Portion Rückenmarkflüssigkeit von Elisabeth, dann gleicht sie einem Frau gewordenen Lipgloss, so prall, so shiny, ihr Hintern ist der Kamera noch lieber als ihr Gesicht, schliesslich soll man sich auch so richtig seines eigenen Voyeurismus' bewusst werden. Dazu gibt es endlose Nacktsequenzen von Moore und Qualey (oder deren Body-Doubles).
Sue wird selbstverständlich Elisabeths Nachfolgerin beim TV-Turnen und ist sofort ein Bombenerfolg, doch im gemeinsamen Zuhause, in Elisabeths Wohnung, ist die Hölle los, da entfesselt sich zwischen den Frauen ein grausames Gemetzel, denn logisch können sie die fragile Abhängigkeit voneinander nicht ausbalancieren. Es geht jetzt um das Überleben der Stärkeren, um eine neue Form von kannibalistischem Bitch-Fight, von Verwüstung, vom Wühlen in und Ausweiden von Körpern, und alles immer ASMR-mässig von den dazugehörigen Geräuschen begleitet.
Das Schneiden, Schränzen, Reissen, Matschen von Haut und Innereien ist naturalistisch, lautstark und omnipräsent und ergibt gemeinsam mit all den Bildern eine fiese multisensorische Ekel-Attacke. Ein Film aus lauter aus dem Lot geratenden OP-Szenen mit verstörender Sound-Kulisse quasi. Und wenn man glaubt, jetzt wirklich alles gesehen zu haben, wird es noch einmal viel, viel, viel schlimmer.
Natürlich ist dies die bestürzend simple, aber effiziente Rache der Regisseurin Coralie Fargeat an der Schönheitsindustrie, die immerzu – und seit dem Boom der Selbstdarstellung auf den sozialen Medien noch einmal verstärkt – von Frauen geglättete, aufgepumpte Oberflächen verlangt. In der Werbung, im Film. Alt zu werden, war schon 1950 in «Sunset Boulevard» scheisse und ist es für viele noch immer geblieben. Auf jede Helen Mirren kommt noch immer eine durchgebotoxte Nicole Kidman.
Fargeat spricht von einem «Gefängnis» der Körperbilder, das es in die Luft zu sprengen gilt. Und es ist beeindruckend, wie solidarisch Demi Moore, der man auf der Leinwand deutlich ansieht, wo sie selbst schon versucht hat, ihren Alterungsprozess aufzuhalten, mit Fargeat ist.
«Die grosse Kunst grosser Schauspieler liegt darin, auf der Leinwand so sterblich wie möglich zu wirken», sagte der italienische Regisseur Luca Guadagnino («Challengers») eben in Venedig am Filmfestival. Demi Moore ist äusserst sterblich in «The Substance». Mit jeder Zelle. Es scheint für sie und für Fargeat ein Atemholen, eine Erlösung in dieser Art von Leinwand-Blutbädern zu liegen. Die absolute Demontage des Mythos der Unsterblichkeit, wie er für Hollywood so wichtig ist. Man muss das schon ernst nehmen.
Und natürlich kann man sagen, hey, der Film ist dermassen over the top, dass er doch eigentlich total lustig ist – was auch nicht immer falsch ist. Wenn Demi Moore etwa ihre Körperzerstörungswut mit Hilfe eines französischen Kochbuchs austobt, ist das schon sehr komisch. Kritiker mit Mägen wie Stahltanks hatten jedenfalls nach der Premiere in Cannes durchaus ihren Spass. Fragt sich, wie viele Zuschauerinnen und Zuschauer den hierzulande auch haben werden: ob 70, 700 oder 7000.
«The Substance» läuft ab dem 19. September im Kino.
Und obwohl ich jetzt kein grosser Fan von Horrorfilmen bin, diesen fand ich dann doch recht nice! Weil eben die Brutalität so dermassen over the top ist dass man es irgendwann mal einfach nicht mehr ernst nimmt. Ich musste zum Teil echt lachen.
Aber der Film macht seiner Bezeichnung Body Horror wirklich alle Ehre😵💫 Er hätte auch 20 Minuten früher enden können...aber es muss ja immer schlimmer kommen🙈
Btw auch was für Lynch-Fans😉