Ein Hoch aufs Verschlafen
Auf dem Perron stehen vereinzelt Menschen. Entknitterte und entspannte Menschen. Es ist halb neun Uhr morgens.
Ich habe verschlafen. Der Wecker hatte seinen Dienst nicht erwartungsgemäss verrichtet. Dieser Schuft! Nach ein paar glorios unkoordinierten Spurts zur Toilette, zum Kleider- und Kühlschrank und wieder zurück ergab ich mich schliesslich der Tatsache, dass die verdöste Zeit unwiederbringlich verloren ist. Und so verliess ich das Haus, meinem Leben für eine glatte Stunde hinterherhinkend.
Und wisst ihr was, all ihr arbeitssamen Menschen da draussen, die ihr euch täglich in aller Herrgottsfrühe aus euren wohlig warmen Betten herausklingeln lasst?
Diese 60 Minuten, die mir zwischen halb acht und halb neun Uhr abhanden gekommen sind, hat die Welt dazu genutzt, die frühmorgendlichen Stressströme, die sich in die Unterführungen unzähliger Bahnhöfe pressen, vollständig zum Versiegen zu bringen. Die Perrons sind zu grossen Teilen verwaist, und die verbliebenen Subjekte darauf sehen für einmal tatsächlich danach aus, als wäre das Leben das Geschenk, als das es von Dichtern und Prosecco-Priska andauernd angepriesen wird.
Ganz anders als bei Prosecco-Priska äussert sich das bei den Menschen auf dem Bahnsteig aber nicht im Überschwang. Vielmehr ist es ein stilles, nach innen gekehrtes Staunen über das blosse Dasein. Eine Art satte Zufriedenheit, die sich in ihren von ausreichend Schlaf gebügelten Gesichtern widerspiegelt.
Dergestalt steigen sie in den Zug und gemeinsam fahren wir der grossen Stadt entgegen, die Sonne eines gehenden Sommers wirft ihr letztes Gold durch die Scheiben, verschwenderisch, als wollte sie es loswerden, bevor der erste Nebel kommt.
Wir nehmen es, saugen es auf, und sehen jetzt noch seliger aus, unerträglich selig schon fast, würde mein Halb-acht-Gesicht von meinem Halbneun-Gesicht denken, würde es ihm jetzt begegnen. Und tatsächlich sehen wir alle in diesem Abteil nach dieser erhabenen Gelassenheit aus, die den Gestressten, den vom Alltag Zerfressenen und vom Leben Zerknitterten zur Weissglut treiben kann: Da liegen sie rum, diese rundum Entkrampften, als wären das keine einfallslos gemusterten, Flecke vertuschenden SBB-Sitze, sondern die reinsten Wellness-Pritschen. Fehlt nur noch, dass sie sich ausziehen.
Was sie natürlich nicht tun. Obwohl man sich an dieser Stelle schon fragt, warum das Railnessen nicht längst schon ein florierendes Geschäftsmodell ist.
Statt sich der Kleider zu entledigen, werden also die Augen geschlossen. Nicht, weil sie einem vor lauter Erschöpfung zufallen. Nein, das hier ist ein bewusster Akt. Das untrügliche Zeichen dafür, dass man das letzte Level erreicht hat. Nirvana.
Siddhartha, ich komme.
Und ja, ich war da. Für den Moment dieser einen Zugfahrt gehörte auch ich zu den selbstgefälligen Augenschliessern, die sich erdreisten, mitten im Alltag die Aussenwelt auszublenden. Ich ruhte in mir und löste mich auf, war da und war weg. War nichts und war alles.
Zumindest bis Altstetten. Da hat die Seele ihre Baumelei sofort eingestellt und sinnloserweise doch noch versucht, meinem Halbacht-Ich hinterherzueilen.
Das hat das schlechte Gewissen zu verantworten. Das schlechte Gewissen, das nach dem Auszug meiner Geruhsamkeit sofort meine verschlafene Stunde in Besitz nahm – mit winzigen Schlechte-Gewissen-Möbeln ist es eingezogen.
Schnaufend komme ich im Büro an. Alle sitzen an ihren Bildschirmen und arbeiten.
Alles ist gut.
Niemand interessiert sich auch nur im Geringsten für meine verlorene Stunde. Niemand will sie haben, also muss ich auch niemand darin wohnen lassen – und am wenigsten mein schlechtes Gewissen. Ich öffne das Fenster, werf es raus, seine stupiden Möbeli hinterher. Und dann, mit letzter Kraft, klettert das goldene Licht einer tief stehenden Sonne über den Sims und durchflutet die nun leerstehenden Räume. Als leuchtend kleiner, zu einem Goldstück verdichteten Moment reiht sich jene Stunde in mein Gedächtnis ein, um ab und an durch den Nebel des stressigen Alltags hindurchzufunkeln und mir zuzuflüstern, dass der Wecker schon eine ausnehmend grausame Erfindung ist.