Wir alle kennen das: Ein Lieblingssong, ein nerviger Werbe-Jingle, die 8-Bit-Tetris-Musik ... jeder und jede ist gewiss schon von unerwünschten Ohrwürmern geplagt worden. In einer 2011 durchgeführten Studie gaben 90% der über 12'000 befragten Personen an, mindestens einmal pro Woche einen Ohrwurm zu haben. Doch ... Was passiert hier eigentlich, so wissenschaftlich gesehen und so?
Der wissenschaftliche Begriff selbst wurde 1979 vom deutschen Psychiater Cornelius Eckert geprägt und wird als ein in einer Schleife wiedergegebenes Musikstück definiert, das in der Regel etwa 20 Sekunden lang ist und plötzlich in unserem Kopf abgespielt wird, ohne dass wir ihn aktiv abrufen müssen. Ein solcher Ohrwurm kann Stunden, Tage oder in extremen Fällen länger andauern.
Aber weshalb geschieht sowas?
Die Forschung hat noch keine abschliessende Erklärung parat, wie genau Ohrwürmer ausgelöst werden oder in welchem Teil des Gehirns sie sich befinden. Bei den meisten historischen Studien handelte es sich um einfache Umfragen; erst in den letzten Jahren haben Wissenschaftler versucht, Ohrwürmer unter Laborbedingungen auszulösen.
Anhaltspunkte und fundierte Vermutungen gibt es aber einige. Eine mögliche Erklärung ist, dass unser Gehirn auf Repetition und Muster reagiert, weil diese in solcher Regelmässigkeit in der Natur nicht vorkommen. Optische Muster sind jedoch ungenauer und somit weniger repetitiv als akustische. Gartenzäune, zum Beispiel, wiederholen sich visuell, aber jedes Mal, wenn wir denselben Zaun sehen, betrachten wir ihn aus einem anderen Winkel oder in einem anderen Licht. Der Klang eines Songs in unseren Kopfhörern ist aber jedes Mal identisch. Umso genauer solche Wiederholungen sind, desto stärker ihr Einfluss auf das Gedächtnis.
Hirnforscher vermuten, dass es sich hierbei um eine Form der Gedankenwanderung handelt. Ohrwürmer tauchen dann auf, wenn unser Gehirn sich im Leerlauf befindet oder nach Ablenkung sucht – wenn wir uns langweilen, etwa, aber auch, wenn wir einfach überlastet sind. «Es ist bezeichnend, dass Menschen mit Neurosen oder Menschen, die müde oder gestresst sind, besonders anfällig für Ohrwürmer sind», so James Kellaris, Professor an der University of Cincinnati, der umfangreiche Untersuchungen zu diesem Thema durchgeführt hat.
Ein Beispiel ist etwa die extreme Stresssituation, die der Bergsteiger Joe Simpson erlebte, als er nach einem Kletterunfall auf einem abgelegenen peruanischen Berg gestrandet war. Bei ihm lief urplötzlich Brown Girl in the Ring von Boney M in Endlosschlaufe. «Das ging stundenlang nonstop», sagt er im Dok-Film Touching the Void, «und ich dachte, verdammt noch mal, ich muss nun zum Klang von Boney M sterben. Ich mag die Band nicht einmal.»
Musik scheint sich auf den motorischen Kortex des Gehirns auszuwirken, weshalb das musikalische Gedächtnis wohl so funktioniert, wie wir Fähigkeiten erlernen, und nicht wie wir uns an Fakten erinnern (ergo: Fahrradfahren verlernst du nicht; der Stoff deiner Maturprüfung aber sehr wohl). MRT-Scans haben gezeigt, dass der auditorische Kortex auch dann weiterarbeitet, wenn das Gehirn nur einen Teil eines Liedes hört, das es kennt, selbst wenn der Rest des Liedes stummgeschaltet ist.
Aber: Nicht jeder Song hat aber das Zeug, ein Ohrwurm zu sein. Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band von den Beatles ist einer. Sgt. Pepper's Lonely Hearts Club Band in der Version von Jimi Hendrix ist keiner. Weshalb?
Laut Wissenschaft weisen die wirksamsten Ohrwürmer häufig folgendes auf:
Eine Kombination von Vorhersehbarem und Unerwartetem, also. Eine einfache Melodie, ein sich wiederholender Text, etwa, kombiniert mit einem Novum – ein ungewöhnlicher Rhythmus, ein klanglich auffälliger Drum-Sound, etc. Das ist ein wirksamer Ohrwurm. Es überrascht nicht, dass genau diese Faktoren seit jeher von der Pop- und Jingle-Industrie in ihre Lieder eingearbeitet werden (wobei Lady Gaga und Abba zu den Hauptschuldigen gehören, mit denen Wissenschaftler konfrontiert wurden).
Weshalb aber nerven Ohrwürmer so sehr?
Fakt ist, wir erinnern uns tendenziell an die Lieder, die uns am meisten stören. «Wenn Sie jemanden nach einem Ohrwurm fragen, wird er das Lied nennen, das ihn gestern geärgert hat», so Victoria Williamson, Musikpsychologin an der Universität Sheffield gegenüber der Wissenschaftsmagazin Science. «Die drei oder vier weiteren Songs, die du kurzzeitig im Kopf hattest und die dich nicht wirklich störten, werden nicht erwähnt.» Ironische Prozesse nennt das die Psychologie: Das Gehirn erinnert sich daran, nicht an das zu denken, woran man nicht denken will. Es ist das sogenannte White Bear Phenomenon: Wird man aufgefordert, nicht an einen weissen Bären zu denken, wird man zwanghaft an einen weissen Bären denken.
Die Schlüsselfrage lautet also: Wie werde ich einen Ohrwurm los?
Die Wissenschaft hat drei gängige Methoden parat: abschliessen, ablenken oder akzeptieren.