Erstmals seit langem erhebt die Bundesanwaltschaft wieder Anklage wegen Mafia-Verdachts. Wie sie am Mittwoch mitteilte, wirft sie einem im Aargau wohnhaften Italiener Beteiligung an respektive Unterstützung einer kriminellen Organisation vor. Die Vorwürfe an den Mann sind massiv, der Fall kommt also vors Bundesstrafgericht.
Dem 58-Jährigen wird angelastet, mindestens zwischen 2001 und 2020 dem ’Ndrangheta-Clan Anello-Fruci als Ansprechpartner in der Schweiz gedient und sich hierzulande für die Förderung der Interessen der Organisation eingesetzt zu haben. Er soll für den Clan von Boss Rocco Anello, 64, zudem eine Reihe von Straftaten begangen haben, unter anderem: Einfuhr, Erwerb und Lagerung von Falschgeld, Hehlerei, Widerhandlungen gegen das Bundesgesetz über Waffen, Waffenzubehör und Munition sowie Widerhandlungen gegen das Betäubungsmittelgesetz.
Bekannt war bisher schon: Schweizer Schaltstelle des Clans war die Pizzeria Bella Vista in Muri AG, nur wenige Schritte vom Polizeiposten entfernt. Der italienische Wirt, 58, der im Ort als Ferrari-Liebhaber aufgefallen war, entpuppte sich als einer der Hauptreferenten der Anello-Fruci in der Schweiz. Er wurde letztes Jahr in Kalabrien zu 17 Jahren Haft verurteilt.
An der Adresse der Pizzeria hatte ein anderer Italiener ein Kleinunternehmen im Bereich Gartenbau eingetragen. Er scheint, darauf deuten Indizien hin, der von der Bundesanwaltschaft Beschuldigte zu sein.
Der Kleinunternehmer galt immer schon als enger Vertrauter des Clan-Bosses Anello und von dessen Bruder Tommaso. Er kontrollierte laut italienischen Zeugen unter anderem auch Nachtlokale, die dem Clan in der Deutschschweiz gehörten, besorgte Waffen, hantierte mit Drogen, brachte Geld nach Italien. Der Gartenbauer wurde 2020 in der Schweiz verhaftet, aber offensichtlich 2021 unter Auflagen wieder auf freien Fuss gesetzt.
Laut Mitteilung der Bundesanwaltschaft soll der Beschuldigte «eine enge Beziehung zur Führungsspitze der Organisation gepflegt» und zur Durchsetzung der Ziele brutale Methoden eingesetzt haben. Die Bundesanwaltschaft wirft ihm unter anderem vor, «die Methoden der Mafia angewandt zu haben, namentlich durch Übergriffe und psychische Nötigung oder Ausnutzung der Einschüchterungsmacht der zu den abscheulichsten Verbrechen fähigen kriminellen Organisation – insbesondere bei der Eintreibung von Krediten und Schutzgeldern».
Diese Methoden sollen, so die Bundesanwaltschaft in ihrer detaillierten Mitteilung, «auch bei der Beschaffung und Anhäufung von Schwarzgeldern zur Umgehung von Steuern, Überweisungen nach Italien sowie im Zusammenhang mit dem Betrieb – zum Teil über Strohmänner – von Gastrounternehmen und öffentlichen Lokalen in verschiedenen Kantonen Anwendung gefunden haben».
Gegen insgesamt 13 Beschuldigte ermittelte die Bundesanwaltschaft in diesem Verfahren, wie sie jetzt mitteilt. Im Oktober 2024 wurde ein Strafbefehl wegen Geldwäscherei gegen eine 59-jährige Italienerin aus dem Kanton Solothurn erlassen, der aber angefochten wurde. Auch hier hat das Bundesstrafgericht zu entscheiden. Zwei weitere Strafbefehle wegen Drogenhandel oder Verstössen gegen das Waffengesetz seien rechtskräftig, so die Bundesanwaltschaft. Ein Verfahren wurde eingestellt, die restlichen an Italien übergeben, an einen Kanton oder in abgetrennten Verfahren abgeschlossen. Es dürften aus dem Verfahren also letztlich um die zehn Schuldsprüche für Personen mit Schweizer Bezug resultieren.
Der Beschuldigte, gegen den jetzt Anklage erhoben wird, spielte laut Anklage auch eine Rolle in der Zusammenarbeit mit einem anderen ’Ndrangheta-Clan gespielt haben. Konkret geht es um den Clan um Boss Giuseppe Larosa aus Giffone in Kalabrien. Diese Mafiafamilie gehörte im November 2021 zu den Zielen der Operation «Cavalli di Razza». Der Clan hatte sich in der Schweiz seit Jahren ebenfalls extrem stark installiert, insbesondere in den Regionen Winterthur, Zürich, St.Gallen, Graubünden und Tessin. Er betrieb mit Schaltzentrale in Zürich eine Art Kokain-Achse durch die Schweiz.
Den Larosa-Clan soll der Beschuldigte ebenfalls unterstützt haben. «Diese Unterstützung», so die Anklage, «soll er geleistet haben, indem er als Vermittler im Betäubungsmittel- und im Waffenhandel agierte und sich für den Verkauf von Waffen zur Verfügung» stellte.
Dem Mann wird weiter vorgeworfen, «die Schweizer Administrativbehörden getäuscht» zu haben, um einem Mitglied der Clans zu ermöglichen, «sich in der Schweiz niederzulassen und so die Ausübung der kriminellen Aktivitäten zu erleichtern».
Hintergrund ist insbesondere die riesige Anti-Mafia-Operation «Imponimento» vor fast fünf Jahren, die sich gegen den ’Ndrangheta-Clan der Anello-Fruci in Kalabrien richtete. Nach jahrelangen Ermittlungen verhafteten am 21. Juli 2020 die Strafverfolgungsbehörden in Italien und der Schweiz zeitgleich insgesamt 75 Personen und stellten Vermögenswerte von 170 Millionen Euro sicher. In den Kantonen Aargau, Solothurn, Zug und Tessin wurden Hausdurchsuchungen durchgeführt, wie die Bundesanwaltschaft damals mitteilte.
Schon 2022 war im abgekürzten Verfahren ein weiterer in der Schweiz aktiver enger Vertrauter der Clan-Bosse verurteilt worden, ein Verwandter des Kleinunternehmers aus Muri AG. Er erhielt knapp elf Jahre Haft. Der Mann hatte jahrzehntelang in der Schweiz gelebt, zunächst im Aargau, dann in Grancia im Tessin, wo er als Gemeindeangestellter arbeitete und anscheinend eine IV-Teilrente bezog. Ebenfalls verurteilt wurde ein dritter «Schweizer»: Dieser Mann war in Oftringen AG gemeldet. Er erhielt vom Appellationsgericht knapp drei Jahre. In erster Instanz hatte er noch elf Jahre erhalten.
Nicht zuletzt dank einem verdeckten Ermittler, den das Bundesamt für Polizei Fedpol in den Clan einschleuste, sind sehr viele Details über die Verbindungen und Umtriebe der Banditen in der Schweiz bekannt. So zeigte sich auch, dass die Clan-Bosse Rocco und Tommaso Anello regelmässig im Aargau aufkreuzten.
Die italienische Justiz hatte Anklage gegen insgesamt 147 Personen erhoben. Einige wurden freigesprochen, die meisten verurteilt. Der Boss Rocco Anello kassierte im abgekürzten Verfahren 20 Jahre, sein Bruder Tommaso im ordentlichen Verfahren 30 Jahre.
Im abgekürzten Verfahren wurden Anfang 2022 insgesamt 65 Personen verurteilt. Im ordentlichen Verfahren im Juni 2024 wurden 48 Personen verurteilt, 25 wurden freigesprochen. Im dazugehörigen schriftlichen Urteil vom Dezember 2024 erklärte das Gericht in Kalabrien die Cosca der Anello-Fruci formell zum Mafia-Clan. Dieser sei «seit 2004 bis heute operativ». Die Bande verfüge über eine so grosse Einschüchterungs- und Unterwerfungskraft, dass der Boss Rocco Anello nur seinen Namen zu nennen brauche, um die Leute gefügig zu machen.
In der Schweiz aktiv war auch die Schwester des Clan-Bosses Rocco Anello. Sie war, getarnt als Serviceangestellte, in Aarau tätig und hatte ein Auge auf die Schweizer Geschäfte des Clans. Laut Zeugen erhielt die Frau vor gut 20 Jahren zusammen mit ihrem Mann, einem berüchtigten Mafioso, die Aufgabe übertragen, die Schweizer Vermögenswerte des Clans zu betreuen. Laut Kronzeugen ging es unter anderem um erpresste Antiquitäten und Gold. Wieweit sie von der Strafuntersuchung betroffen ist, ist nicht klar. Sie wurde aber im Jahr 2020 zumindest befragt.
Ihr ehemaliger Liebhaber, der an mindestens einem Mafia-Treffen in Kalabrien teilnahm, wirtet noch heute in einer Landbeiz im Kanton Aargau. Er war offenbar einer der Strohmänner des Clans. Kontaktiert von CH Media, war sein einziger Kommentar:
Allein schon wegen Mafia-Zugehörigkeit können Beschuldigte in der Schweiz mit bis zu zehn Jahren Haft bestraft werden. Vor Jahren war die Bundesanwaltschaft in einem grossen Verfahren, ebenfalls gegen einen Clan der 'Ndrangheta, noch gescheitert. Im Gegensatz zu seinem Vorgänger, der «keine Abenteuer» wollte, wie er einmal sagte, hat der Kampf gegen die Mafia für den derzeitigen Bundesanwalt Stefan Blättler höchste Priorität.
Die im laufenden Mafia-Verfahren bereits «ergangenen Urteile stellen einen wichtigen Erfolg dar und zeigen die Wirksamkeit und Notwendigkeit der Zusammenarbeit zwischen der Bundesanwaltschaft und den kantonalen und ausländischen Strafverfolgungsbehörden», teilte Blättlers Behörde am Mittwoch mit.
Es gilt die Unschuldsvermutung.
Und im Übrigen hätte der Vorgänger nach der Aussage, keine Abenteuer zu wollen entlassen gehört.