Dies ist die Geschichte einer Mutter, die ihre Tochter nicht liebte. Und einer Tochter, die von ihrer Mutter nur das Beste wollte. Nämlich ihr Geld. Dies ist die Geschichte der beiden reichsten Frauen der Welt. Liliane und Françoise Bettencourt. Als Mutter Liliane 2017 im Alter von 94 Jahren stirbt, beträgt ihr Vermögen 36 Milliarden Euro. Sie ist die elftreichste Person der Welt. Und die reichste Frau. Heute ist Tochter Françoise 70 Jahre alt und besitzt 80,5 Milliarden.
Reich gemacht hat sie L'Oréal, der Kosmetikkonzern von Lilianes Vater Eugène Schueller, einem Mann, dessen Geschäfte besonders deshalb gut liefen, weil er während des Zweiten Weltkriegs erfolgreich mit den Nazis kollaborierte und die antisemitische Terrororganisation Comité secret d’action révolutionnaire finanzierte. Eines ihrer Mitglieder war der spätere Präsident François Mitterrand. Ein anderes das spätere Senatsmitglied André Bettencourt.
Schueller machte Bettencourt zu seinem Schwiegersohn, und niemand hatte etwas dagegen, dass dieser weiterhin antisemitische Pamphlete verfasste. Doch dann heiratet ausgerechnet Françoise, die Tochter von Liliane und André, 1984 den Enkel eines in Auschwitz ermordeten Rabbiners und konvertiert zum Judentum. Plötzlich befürchtet Grossmutter Liliane, ihre Enkelkinder könnten allzu jüdisch aussehen.
Françoise ist Lilianes einziger Versuch, mit André Nachkommen zu zeugen, sie ist vom Resultat nicht überzeugt, sie hält ihre Tochter für schwerfällig und nicht gesellschaftsfähig. Zudem ist die Liebe zwischen ihr und André schon lange tot. Zu ihrem Glück tritt da ein anderer Mann in ihr Leben – und es ist exakt wie in der zweiten Staffel «White Lotus», wo die weltfremde Multimillionärin Jennifer Coolidge an ein paar Schwule gerät, die verzweifelte superreiche Frauen ausnehmen.
Es ist 1987, die französische Schauspielerin Arielle Dombasle (in der Netflix-Doku nennt sie sich «Artiste») stellt Liliane den 25 Jahre jüngeren schwulen Society-Fotografen François-Marie Banier vor. Banier, ein schillernder Mann, der nicht selten grosse Stars für die Titelblätter grosser Magazine ablichtet, gelingen entspannte, heitere, ästhetische Aufnahmen von Liliane. Er wird ihr bester Freund.
Sie ist wie erlöst und macht ihm dafür grosszügige Geschenke, Kunst, Geld, über die Jahre werden sie immer grösser, gehen in die Hunderttausende, in die Millionen, innerhalb von zwanzig Jahren wird sie ihm beinahe eine Milliarde Euro geschenkt haben. Er ist nicht der einzige Profiteur, aber der grösste.
Und da steigt die leider nur dreiteilige Netflix-Dokumentation «L'Affaire Bettencourt» nun ein. Im Jahr 2007. Die Perspektive, die Regisseur Maxime Bonnet dabei wählt, ist ungewöhnlich, effizient und erst noch kostensparend. Seine Kamera klebt nämlich in den nachgestellten Szenen stets an der Decke. An der Decke von Lilianes Villa oder an der Decke von Françoises Wohnung.
Es ist eine gewisse Genugtuung, für einmal auf diese geradezu pervers reichen Menschen runterschauen zu können, es ergibt sich eine emotionale Distanz, Bonnet gibt uns keine Chance für sentimentales Mitleid mit den armen reichen Frauen. Von oben kann man den Schauspielerinnen und Schauspielern nicht ins Gesicht schauen, sie sind reine Schemen, und sprechen müssen sie auch nicht. Sie müssen bloss markieren.
Alle Dialoge im Hause Bettencourt, die wir hören, sind echt und stammen ab Band, aufgenommen vom ach so getreuen Butler von Liliane Bettencourt. Es war die Idee von Françoise, denn 2007, kurz nach dem Tod ihres Vaters, erfährt sie von einem Bediensteten, dass Liliane plane, Banier zu adoptieren und als zusätzlichen Erben einzusetzen. Sie bringt den Butler dazu, die Mutter zu bespitzeln, sie hat jetzt zwei Ziele, Banier auszustechen und ihre Mutter zu entmündigen, man kämpft in dieser Familie mit fast so harten Mitteln wie in «Game of Thrones». Ganz im Sinne des Werbeslogans «L'Oréal: Weil ich es mir wert bin». Mit Betonung auf «ich».
Über zwanzig Stunden an Aufnahmen liefert der Butler ab, doch das Wenigste davon betrifft Banier, denn diesen empfängt Liliane lieber im Schlafzimmer als im Salon, wo sich das Aufnahmegerät unbeobachtet verstecken lässt. Ohne zu wollen, katapultiert Françoise ihre Familie in einen der grössten Skandale, die Frankreich je gesehen hat.
Denn was die Aufnahmen beinhalten, sind Gespräche von Liliane mit ihrem Vermögensverwalter, der sich auf Steuerhinterziehung spezialisiert hat, es geht um Konten in der Schweiz und in Liechtenstein und um den Besitz einer Seychellen-Insel, die früher dem letzten Schah gehört hatte. Und es geht um riesige, illegale Spenden an konservative Politiker, allen voran Nicolas Sarkozy und sein Wirtschaftsminister Eric Woerth.
Das nach Ende seiner Amtszeit gegen Sarkozy aufgenommene Verfahren wird 2013 eingestellt. Und beim grossen Prozess 2015 trifft Banier zunächst die härteste Strafe von allen, doch nach einer Wiederaufnahme des Verfahrens muss er nur noch einen symbolischen Schadenersatz von einem Euro an Françoise bezahlen. 2016 wird Françoise selbst angeklagt, sie soll ihre Kronzeugin, die ehemalige Buchhalterin der Mutter, mit 300'000 Euro bestochen haben. Die Anregung zu diesem Verfahren kommt von Banier.
Aus den Aufnahmen des Butlers wird klar, dass Liliane Bettencourt zunehmend schwerhörig und vergesslich wurde. Françoise erblickte ihre Chance, und tatsächlich diagnostizierten die Ärzte nach unzähligen Tests eine einsetzende Alzheimer-Erkrankung. Es gelang Françoise, ihre Mutter zu entmündigen und in ihren letzten Jahren derart von jeder Aussenwelt zu isolieren, dass sie 2017 als verwirrte, einsame Frau starb. Und Françoise zur reichsten Frau der Welt wurde.
«L'Affaire Bettencourt» erzählt Eingeweihten nichts Neues. Die Familiengeschichte, die Aufnahmen, der Prozess sind bekannt, man könnte das reichhaltiger und sorgfältiger erzählen, es stellen sich da immer noch mehr Fragen. Wozu etwa brauchte Banier all das Geld, wenn er doch selbst ein enorm erfolgreicher Fotograf war? Für nicht Eingeweihte ist der Dreiteiler jedoch eine enorm geschickt montierte, fassungslos machende Einstiegsdroge in die französische Real-Life-Fassung von «Succession». Nur dass die Geschichte der Bettencourts noch krasser, kränker und kälter ist als die von Logan Roy und seiner Brut. Es ist ein Blick in einen Wahnsinn, wie ihn nur viel zu viel Geld entfesseln kann.
PS: Arielle Dombasle, die gemeinsam mit ihrem Mann, dem Publizisten Bernard-Henri Lévy, geschätzte 300 Millionen Euro besitzt, ist übrigens «furieuse» über die Dokumentation und hat Netflix bereits eine Abmahnung geschickt. Sie habe sich vor der Kamera in der Meinung geäussert, es handle sich dabei um eine Produktion, die der Familie Bettencourt Respekt zollen würde, und fände sich jetzt mit einer «komplett abwesenden Objektivität» konfrontiert. So kann man das natürlich sehen, wenn man selbst zu Frankreichs superreicher Elite gehört.
Für diese 94 Milliarden haben Hunderttausende über Jahrzehnte arbeiten müssen. Dass ein Mensch die gesellschaftliche Arbeitskraft in der Summe des BIPs von ganz Marokko, Kenia oder 2x Serbien besitzt, sollte verboten werden.