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Emmy Noether: Die Geschichte einer verkannten Mathematikerin

Frauen der Geschichte

Die Macht von Emmy Noethers Genie sprengte die Grenzen ihres Geschlechts

Nicht nur wegen ihrer Genialität erinnert Emmy Noether an Einstein. Eine Biografie zeichnet das Leben der Mathematikerin von Weltruf nach.
15.09.2022, 22:05
Christoph Bopp / ch media
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Wenn man es sich etwas einfach macht, kann man sagen: Das Forscher-Leben ist ein Fragen und ein Suchen. Geprägt vom Suchen nach Anerkennung von anderen Menschen oder Kollektiven und einem Fragen, dessen Antworten oft zum grössten Teil in ihm selbst liegen. Manchmal klappt es, manchmal nicht; manchmal besser, manchmal nicht so gut.

Emmy Noether, vor 1910 (nachkoloriert)
https://de.wikipedia.org/wiki/Emmy_Noether#/media/Datei:Noether_retusche_nachcoloriert.jpg
Bild: Wikimedia

Nehmen wir Emmy Noether (1882-1935), eine Mathematikerin von Weltruf. Es gibt und gab schlicht niemanden in der Zunft, der ihr absprach Spitzen-Wissenschaft zu treiben. Trotzdem gab man ihr in Deutschland nie eine ordentliche Professorenstelle.

Als Frau zum «normalen» Mathematik-Studium im wilhelminischen Deutschland zugelassen zu werden, brauchte unendlich viel Geduld und grosse Hartnäckigkeit. Und als sie ihren Doktor gemacht hatte und an der Universität unterrichtete, gab es kein Gehalt.

Die Diskussionen unter den Männergremien, als sie habilitiert werden sollte, bringen uns heute zum Lachen, wenn es auch ein etwas verkrampftes Lachen ist. Erst in der Weimarer Republik wird Emmy Noether habilitiert und trägt dann entscheidend dazu bei, dass Göttingen zum Weltzentrum der Mathematik wird.

Jetzt erhält sie auch ein kleines Gehalt. Ihre Reputation in der Welt-Mathematik steigt, aber 1933, als die Nazis die Macht übernommen hatten, muss Emmy Noether einsehen, dass es für sie in Deutschland keine Zukunft geben würde. Sie emigrierte nach Amerika, es gab Aussicht auf eine Stelle am berühmten Princeton Institute, wo auch Albert Einstein einen sicheren Platz gefunden hatte. Aber Noether starb bereits 1935 nach einer Operation.

Es waren nicht nur die gesellschaftlichen Vorurteile gegenüber den Frauen. Die allermeisten Fach-Männer anerkannten ihre Leistungen und sprachen von ihr als einer «Ausnahme». Der bereits emeritierte Göttinger Mathematiker Felix Klein schrieb 1919: «Sie hat im letzten Jahre eine Reihe theoretische Untersuchungen abgeschlossen, die oberhalb aller im gleichen Zeitraum von anderen hierorts realisierten Leistungen liegen (die Arbeiten der Ordinarien mit eingeschlossen).» Im Klartext: Sie war besser als ihre festbestallten Kollegen. Die Argumente gegen ihre Habilitation laufen alle nur darauf hinaus, dass eine Frau einfach «stören» würde, und gingen bis zur Behauptung: Man könne den Soldaten von der Front doch keine Frau zumuten.

Zutritt nur für Männer: Die heiligen Zahlenhallen des Pythagoras

Die Ursachen dafür, dass es Frauen in den Naturwissenschaften schwer haben, liegt tiefer. 1995 beschrieb die US-Wissenschaftsjournalistin Margaret Wertheim das Phänomen in ihrem Buch «Pythagoras' Trousers». Sie ordnet es so ein: Die Wissenschaft verabschiedete sich vom Modell des Beobachtens und Erklärens und verlegte sich auf das Entdecken von Mustern, die den Phänomenen zugrunde liegen. Diese Muster wurden mathematisch formuliert. Damit kehrte die «empirische» Wissenschaft zu Pythagoras zurück, dem das Motto zugeschrieben wird: «Alles ist Zahl.»

Das lässt sich gut am Denkweg von Albert Einstein veranschaulichen. Die spezielle Relativitätstheorie war eigentlich eine Untersuchung über die Pro­blematik des Begriffs «Gleichzeitigkeit» und die Mathematik vergleichsweise einfach. Für das Verständnis am schwierigsten war der Übergang von der dreidimensionalen Geometrie des Raumes zu einer vierdimensionalen Geometrie der Raumzeit. Aber sie war auf Systeme beschränkt, die sich zueinander in Ruhe oder in gleichförmiger Bewegung verhielten.

Um die Theorie zu verallgemeinern, brauchte Einstein die Hilfe seines Kollegen Marcel Grossmann und eine neue Geometrie mit gekrümmten Räumen und beliebig vielen Dimensionen. Anschaulich vorstellen kann man sich das nicht mehr, auch wenn der Sachverhalt der Allgemeinen Relativitätstheorie (ART) noch durchaus verständlich formuliert werden kann: «Die vorhandene Masse bestimmt die Beschaffenheit der Raum-Zeit und legt fest, wie sich Körper in ihr bewegen.»

Wertheim führt die männliche Dominanz auf die Metapher zurück, dass die Wissenschaft, wenn sie die Muster hinter den Phänomenen suche, sich den Gedanken des Schöpfers der Natur nähere. Einstein selbst spielte gerne mit der Metapher, wenn er von den «Gedanken des Alten» sprach oder dass Gott «nicht würfle». Auch wenn sich die Wissenschaft immer mehr von der Religion emanzipierte, geriet der Wissenschafter so in eine Position, die strukturell der eines Priesters ähnlich ist. Er präsentiert dem Volk die Gedanken Gottes. Dass eine Figur wie Stephen Hawking, der eine ähnliche Bewunderung genoss wie Einstein, in dieses Schema passte, spricht auch dafür. It's a man's world.

Hätte Einstein Emmy Noethers Charaktergrösse aufgebracht?

Einstein hatte Mühe, in den Wissenschaftsbetrieb zu kommen. Seine bahnbrechenden Leistungen 1905 stammten aus dem Berner Patentamt. Erst 1914 bekommt er in Berlin eine Position, die es ihm erlaubt, sich hauptberuflich seinem Projekt zu widmen. Und im November 1915 hatte er dann die Gleichungen der ART beisammen. Was wäre passiert, wenn ihm der Sprung auf den Universitätszug nicht gelungen wäre? Hätte er - wie Emmy Noether - die Energie und Disziplin aufgebracht, weiter seinem Ziel nachzustreben?

Emmy Noether war - so würden wir heute sagen: extrem fokussiert. Auf Mathematik, besonders auf Algebra. Darin glich sie Einstein, der seine letzten 25 Jahre damit zubrachte, die grosse allgemeine Theorie doch nicht zu finden. Sie glichen sich auch in anderen Belangen. Wie Einstein gab Emmy Noether nichts auf ihr Äusseres, auf Kleidung oder eine vorteilhafte Erscheinung. Aber sie war freundlich und von einer intellektuellen Grosszügigkeit, die erstaunt. In ihren Arbeiten zitierte sie alle und alles, was als Vorläufer ihrer Ideen hätte gelten können. Sie half ihren Studenten, wo sie konnte, teilte ihre Ergebnisse und gab nichts auf Entdeckerpriorität oder dergleichen.

Ihr Mathematikerkollege Hermann Weyl hielt eine Trauerrede, die höchsten Respekt vor ihren mathematischen Fähigkeiten bekundet. Gleichzeitig erlaubte er sich, ihr «Einseitigkeit» vorzuwerfen. Noether-Biograph Lars Jaeger nennt das «eine Unverschämtheit». Er wirft ihr vor, ihr Leben nicht nach den Vorstellungen des männlichen Teils der Bevölkerung gestaltet zu haben. Dass sie gar nicht anders konnte, weil sie kein Geld hatte für Dinge neben der Mathematik, fiel ihm nicht ein.

Emmy Noether und die Allgemeine Relativitätstheorie

1915 berührten sich die Denkwege von Emmy Noether und Albert Einstein. Die Göttinger Koryphäen David Hilbert (1862-1943) und Felix Klein (1849-1925) hatten sie - unentgeltlich - zur Mithilfe eingeladen. Gleichzeitig hatte Einstein den Kontakt mit den Mathematikern gesucht. Hilbert und Einstein bogen zusammen in die letzte Kurve ein auf dem Weg zu den Gravitationsgleichungen. Hilbert und Klein räumten freimütig ein, dass «Fräulein Noether» massgeblich dabei beteiligt war. Und Einstein rühmte in einem Brief an Hilbert, dass sie «ihr Handwerk» verstehe.

Noethers Beitrag zur ART und zur theoretischen Physik besteht in den zwei Noetherschen Theoremen (publiziert 1918). Die wichtigste Aussage: Wenn in einer Theorie Symmetrien auftreten, deutet das auf eine entsprechende Erhaltungsgrösse hin. Das wurde von Emmy Noether bewiesen. Eine Theorie (oder eine Sache) besitzt Symme­trie, wenn man etwas mit ihr machen kann, das ihr Aussehen aber unverändert lässt. Wenn wir eine Theorie über die Welt formulieren, soll die ja nicht nur aus unserem eigenen Gesichtswinkel gelten, sondern auch aus anderen Perspektiven.

Dabei legen wir uns gemäss Noethers Theorem auf einen Erhaltungssatz fest. In einer Theorie, die räumlich symmetrisch ist, gilt der Impulserhaltungssatz. Angestossene Billardkugeln bewegen sich nicht anders, wenn man von der anderen Seite des Tisches auf sie blickt. Wenn es keine Rolle spielt, wann ein Prozess beginnt, gilt der Energieerhaltungssatz.

Emmy Noethers Beiträge zum Beispiel zur Algebratheorie sind noch «abstrakter» und damit weiter von unserer Alltagserfahrung entfernt. Die Fachleute versichern uns, dass die Mathematik heute anders aussehen würde ohne Emmy Noether. Wenn wir akzeptieren, dass Fortschritt - das Ausweiten des Wissens - in der Mathematik oder überhaupt in der Wissenschaft immer etwas hat von Verallgemeinerung, erstaunt immer noch die Borniertheit ihrer männlichen Kollegen, auch wenn diese vorgaben, nur die Institutionen schützen zu wollen. (bzbasel.ch)

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13 Kommentare
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Wombat59
15.09.2022 22:36registriert September 2019
Vielen Dank für diesen Artikel über eines der grössten Mathematikgenies des letzten Jahrhunderts. Noethers Beitrag zur Kommutativen Algebra und damit indirekt auch zur Algebraischen Geometrie kann man nicht hoch genug einschätzen, ohne ihren Beitrag wäre die Mathematik nicht, wo sie heute ist.
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Menel
16.09.2022 07:59registriert Februar 2015
Bei solchen Geschichten denke ich immer; verschwendetes Potenzial. Wo wären wir heute, wenn wir schon immer allen Grossrechnern (Gehirne) die Chance geben hätten mitzudenken?
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Bauchgrinsler
16.09.2022 00:27registriert Mai 2021
Verstehe nicht so recht...
Ist das jetzt ein Artikel über eine äusserst intelligente Frau oder ein Artikel über die unendliche Dummheit der Menschen?
Egal..... jedenfalls ein guter Artikel.
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