Selleriesaft ist eigentlich nur grün getrübtes H₂O. Denn das Getränk besteht zu mehr als 90 Prozent aus Wasser. Dennoch wird der Saft als Wunderwaffe gegen zahlreiche Beschwerden und Krankheiten gefeiert: Bluthochdruck, Schlafstörungen, Augenprobleme, Libidoverlust, Magenbeschwerden, Diabetes, Essstörungen.
Wie kommt das?
Nun: Von den positiven Effekten schwärmen Hollywood-Stars wie Kim Kardashian und Sportler wie Novak Djokovic gleichermassen. Selbst Sylvester Stallone schlürft den «Wundersaft». Erst kürzlich hat die Schweizer Influencerin Anja Zeidler bekannt gegeben, ihren Tumor zunächst mit positivem Mindset, Naturheilkunde und frischgepresstem Selleriesaft zu bekämpfen.
Ausgelöst hat den Hype Anthony William. Er gilt als Gründer der «Selleriesaftbewegung» und bezeichnet sich selbst als «medizinisches Medium», da er seine Gesundheitstipps von einem Geist zugeflüstert bekomme. Diese spirituelle Kraft wisperte William unter anderem zu, dass sich viele schwer behandelbare Erkrankungen mit Selleriesaft behandeln liessen. Der Amerikaner glaubt darum nicht, dass Krankheiten genetisch bedingt sind, und ist davon überzeugt, dass Leiden wie Krebs, chronische, seelische sowie Autoimmunerkrankungen durch die Ernährung geheilt werden können.
Berühmt wurde er durch sein Buch «Medical Medium Celery Juice: The Most Powerful Medicine of Our Time Healing Millions Worldwide» (Medizinisches Medium Selleriesaft: Die mächtigste Medizin unserer Zeit heilt Millionen von Menschen weltweit), in dem er die Gesundheitstipps des Geistes niederschrieb. Die deutsche Übersetzung des Buches klingt etwas weniger spektakulär: «Selleriesaft: Der ultimative Superfood-Drink für deine Gesundheit – Starkes Immunsystem, gesunder Darm, strahlend schöne Haut».
Wenn es um seinen Werdegang geht, ist William nicht so mitteilsam. Über sein Alter ist genauso wenig bekannt wie darüber, ob der Geist aus dem Wundersellerie stammt. Bekannt ist, dass er als Vierzehnjähriger in einem Supermarkt arbeitete und dort Kundinnen und Kunden Gemüse und Obst empfohlen habe, um ihre Gesundheitsbeschwerden zu lindern. Der Geist habe ihn vor allem dazu aufgefordert, Selleriesaft zu «verordnen». Bereits als Vierjähriger habe er den Geist zum ersten Mal gehört, als er bei seiner Grossmutter Krebs «diagnostizierte».
Klar ist: William ist kein Arzt und auch kein Wissenschaftler. In der Sellerie-Bibel beruft sich der Sellerie-Guru auf keine medizinischen oder ernährungswissenschaftlichen Erkenntnisse, sondern auf Empfehlungen des Geistes und Placebo persönliche Erfahrungen.
Trotzdem schlug die Gesundheitsbombe ein – und landete auf sämtlichen Bestseller-Listen. Nach dem Durchbruch folgten weitere Bücher, die Gesundheitsfragen thematisieren. In einem schreibt er beispielsweise über lebensverändernde Lebensmittel aus der Obst-, Gemüse-, Kräuter- und Gewürzwelt – die vier Heiligen, wie William sie nennt.
William kann auch digital. Auf Instagram folgen ihm 4,5 Millionen Menschen, auf Amazon hat er fast 20'000 Bewertungen. Ihm wird nachgesagt, dass er seine Sellerie-Anhängerinnen und -Anhänger dazu aufforderte, positive Kommentare abzugeben. Jene Person, welche die inspirierendsten Empfehlungen verfasste, soll 300 Dollar erhalten haben.
Der Selleriesaft-Hype scheint noch lange nicht ausgepresst zu sein. Grund genug, einen Blick auf die Studienlage zu diesem Wundermittel zu werfen.
Unbestritten ist: Sellerie ist gesund. Das Gemüse ist reich an Vitaminen, Mineralien und Antioxidantien. Es gibt nur wenige repräsentative Studien, welche die Wirkung von Selleriesaft auf die Gesundheit der Menschen erforscht haben. Auch gibt es keine wissenschaftlichen Belege dafür, dass man den Saft auf leeren Magen trinken soll, so wie es William empfiehlt.
Einige Untersuchungen konzentrierten sich auf die verschiedenen Nährstoffe von Sellerie. Das Gemüse enthält unter anderem die Antioxidantien Apigenin und Luteolin, die der Forschung zufolge entzündungshemmend wirken und die Gedächtnisleistung steigern.
Viele der Untersuchungen zu den Wirkungen der Inhaltsstoffe von Sellerie, welche die US-Gesundheitsbehörde National Institutes of Health listet, sind nicht am Menschen, sondern an Tieren durchgeführt worden – und können somit nicht automatisch auf den Menschen übertragen werden.
Ernährungswissenschaftlerinnen- und -wissenschaftler empfehlen, Sellerie nicht zu entsaften, da dadurch wertvolle Ballaststoffe verloren gehen. Besser sei es, Sellerie roh zu essen oder ihn zu pürieren.
Der Hype um die grüne Stange kommt allerdings nicht von ungefähr. Im alten Ägypten sowie im antiken Griechenland galt Wildsellerie nach schriftlichen Überlieferungen bereits als Heilpflanze und wurde als Arzneimittel genutzt.
Pedanios Dioskurides, einer der bekanntesten Ärzte der Antike, verwendete das Gemüse unter anderem bei Tierbissen und Magenbeschwerden. Beim griechischen «Vater der Medizin» Hippokrates wirkte Sellerie harntreibend. Der Schweizer Naturheilpraktiker Paracelsus nutzte Sellerie als Mittel gegen Schweiss und Blähungen.