Der metallene Rührspatel muss uralt gewesen sein. Der lange Griff war mehrfach verbogen, die Rührfläche abgenutzt. Seit ich denken kann, hing er in unserer Küche. Viele Jahrzehnte lang, bis dieser Haushalt aufgelöst und er zusammen mit einer Vielzahl anderer Gegenstände entsorgt wurde. Ich glaube nicht, dass es heute in meiner Küche auch nur einen einzigen Gegenstand gibt, der mich so lange begleitet hat. Gut möglich, dass es meine Grossmutter war, Jahrgang 1893, die diesen Spatel einst gekauft hat, lange vor meiner Geburt.
Als meine Grossmutter irgendwann in den 1910er-Jahren heiratete und ihren eigenen Haushalt gründete, waren die Verhältnisse bescheiden. Um nicht zu sagen: kärglich. Das Einkommen eines Kleinbauern und Tagelöhners, wie mein Grossvater einer war, genügte kaum, um die schnell wachsende Kinderschar zu ernähren. Diese Kargheit muss sich in der Zahl der Gegenstände niedergeschlagen haben, die in einem solchen Haushalt vorzufinden waren.
Wie viele es exakt waren, kann man heute unmöglich sagen. Sicher ist hingegen: Es waren nur sehr wenige im Vergleich zu einem heutigen Haushalt. Sie wurden gebraucht, so lange es ging, und nur ersetzt, wenn es wirklich nötig war. Das war damals weltweit der Fall – und ist es noch immer für breite Schichten der Bevölkerung in einigen Ländern des Globalen Südens.
An der explosiven Zunahme der Zahl der Gegenstände, die jemand besitzt, zeigt sich exemplarisch die tiefgreifende Veränderung, die unsere Gesellschaft in den vergangenen hundert Jahren durchlaufen hat. Der niederländische Journalist Dick Wittenberg hat dies in seinem Buch «Wat doen we met de spullen?» («Was tun wir mit den Sachen?») anhand einer durchschnittlichen Hinterlassenschaft in den Niederlanden erzählt.
Als Jo van Overdijk 18 Jahre alt war, besass sie höchstwahrscheinlich weniger als 50 Gegenstände; in der Hauptsache vermutlich Kleider, dazu ein, zwei Paar Klompen (Holzschuhe) oder Schuhe. Und ein Kommunionskreuz an einer Kette. Das war 1944, während der deutschen Besetzung der Niederlande im Zweiten Weltkrieg, einer Zeit des Mangels und der Entbehrungen. Als Van Overdijk mit 90 Jahren starb, umfasste ihre Hinterlassenschaft mehr als 10'000 Gegenstände: Möbel, Gemälde, Papierdokumente, Spannbettlaken, Bücher, Flaschen, Duschgel-Behälter, und, und, und.
Das meiste davon ist für die Erben kaum zu gebrauchen. Mehr als 90 Prozent einer Hinterlassenschaft, schreibt Wittenberg, gehen in den Müll. Und dies, obwohl an manchen Gegenständen emotional aufgeladene Erinnerungen kleben. «Gegenstände sind der ideale Aufhänger für Erinnerungen», stellt auch Wittenberg fest. Sie verkörpern die Person, die sie ihr Eigen genannt hat. Sie «repräsentieren die Gewohnheiten, Normen und Werte, die ein Kind unaufgefordert von seinen Eltern erbt». Gegenstände können Generationen über den Tod hinweg verbinden. Durch die mit ihnen assoziierten Erinnerungen sind sie in der Lage, den Schmerz oder die Freude der Kindheit wieder aufleben zu lassen.
Mehr als 10'000 Gegenstände. Diese Materialflut erscheint unfassbar, doch es gibt Leute, die nachgezählt haben. Wobei sich natürlich sofort die Frage stellt, wie Gegenstände definiert werden: Sind ein Paar Schuhe zwei Gegenstände oder nur einer? Wie sieht es mit Tabletten oder Pillen in einer Packung aus? Zählt jede einzeln? Hinzu kommt, dass während des Zählvorgangs laufend neue Gegenstände dazukommen, andere hingegen entsorgt werden.
Gleichwohl haben anscheinend geduldige Leute tatsächlich versucht, ein genaues Inventar ihrer Besitztümer aufzustellen. Falls sie die Zählung überhaupt zum Abschluss bringen, sind die Ergebnisse erstaunlich: In den westlichen Konsumgesellschaften scheinen die Menschen in der Tat mehr als 10'000 Gegenstände zu besitzen. Die belgische Fotografin Barbara Iweins, die vier Jahre lang jeden einzelnen Gegenstand in ihrem Besitz fotografierte, kam auf 12'795.
Die niederländische Regisseurin Judith de Leeuw, die einen Film über ihr Unterfangen drehte, kam auf 15'734. Unter anderem 876 Bücher, von denen 110 nie gelesen wurden, oder 870 Kleidungsstücke, darunter 312 Socken und 60 Hosen. Und 123 kaputte Dinge, die nie weggeworfen wurden. Alle Dinge am Boden ausgelegt nahmen eine Fläche ein, die 8,5-mal grösser als jene ihres Hauses war.
Die Flut der Gegenstände in unserem Alltag ist die Folge eines beispiellosen wirtschaftlichen Aufschwungs, der im 19. Jahrhundert einsetzte. Zuvor hatte nahezu Stagnation geherrscht; im ersten Jahrtausend unserer Zeitrechnung fiel das globale Pro-Kopf-Einkommen sogar leicht, von 1000 bis 1820 stieg es nur sehr langsam, insgesamt um etwa 50 Prozent, wie der britische Ökonom Angus Maddison berechnet hat.
Als die Erste Industrielle Revolution immer mehr Gebiete erfasste, änderte sich dies, und mit der Zweiten Industriellen Revolution ab 1870 nahm der Aufschwung noch mehr Fahrt auf. 1998 war das Pro-Kopf-Einkommen weltweit 8,5-mal so hoch wie 1820, während die Bevölkerung im selben Zeitraum um das 5,6-Fache wuchs.
Besonders die westliche Welt wurde immer reicher. Und der Wohlstand wuchs nicht nur in der Oberschicht, sondern auch in der gesamten Bevölkerung. Im Gleichschritt damit nahm die Zahl der Gegenstände in den Haushalten zu. Jo van Overdijks materieller Besitz, so hat es Wittenberg ausgerechnet, verdoppelte sich von 1944 bis 2016 im Schnitt alle 9 Jahre.
Und mit der Zahl der Gegenstände, die wir im Laufe der Zeit anhäuften, nahm auch die Zahl der Gegenstände zu, die wir gar nicht brauchen. Iweins, die Fotografin, die ihren Besitz fotografierte, kam zum Schluss, dass sie 99 Prozent ihrer Gegenstände nicht wirklich benötigte. 2017, ein Jahr nach Van Overdijks Tod, besass jeder Niederländer über 16 Jahre im Schnitt 173 Kleidungsstücke. Doch davon war fast ein Viertel noch nie getragen, wie Wittenberg schreibt. Dennoch kaufte der durchschnittliche Niederländer in ebendiesem Jahr noch 46 zusätzliche Kleidungsstücke dazu (und entsorgte 40).
Vorgänge wie diesen kann man mit einem positiven oder negativen Begriff bezeichnen: Überfluss oder Verschwendung. Beide gehören untrennbar zu dem, was wir unter Konsumgesellschaft verstehen – ein Überfluss an Konsumgütern, die wir verschwenderisch verbrauchen. Oder gar ungebraucht wegwerfen. Unvorstellbar für die Generation meiner Grossmutter und auch jene von Jo van Overmars. Sie hatten den Mangel der Kriegszeit erlebt und waren davon geprägt. Auf die Flut an Konsumgütern, die nach dem Zweiten Weltkrieg über sie hereinbrach, war zumindest meine Grossmutter nicht vorbereitet. Wegwerfen fiel ihr zeitlebens schwer.
Eine Konsumgesellschaft setzt Geld und Freizeit voraus. Die Kaufkraft stieg mit dem erwähnten Anstieg der Reallöhne, die Freizeit nahm mit der Einführung des Achtstundentags 1919 und des arbeitsfreien Samstags (1926 in den USA beim Automobilhersteller Ford, in den 1950er- und 1960er-Jahren in der Schweiz) schrittweise zu. Die Konsummöglichkeiten verstärkten sich zusätzlich mit der Entstehung neuer Kreditformen, etwa der Kreditkarte. Im Zuge dieser Entwicklung vergrösserte sich allerdings auch die Kluft zwischen Arm und Reich zusehends.
Konsumgesellschaft heisst vor allem eines: Wachstum. Diesen Zusammenhang hat der deutsche Journalist Wolfgang Uchatius in seinem 2013 erschienenen Artikel Jan Müller hat genug eindrücklich herausgearbeitet. Dieser Jan, damals 18 Jahre alt, ist ein fiktiver junger Mann – der Durchschnittsdeutsche seines Jahrgangs. Jan war eine Schöpfung der Hamburger Werbeagentur Jung von Matt, die in ihm einen Berg von Daten veranschaulichte. Wenn die deutsche Wirtschaft in den kommenden Jahren um drei Prozent pro Jahr wachsen soll, so schrieb Uchatius 2013, müssen die deutschen Firmen in 25 Jahren doppelt so viel umsetzen – und der 18-jährige Jan Müller der Zukunft muss doppelt so viel kaufen.
Dies wird irgendwann zu einem Problem, nur schon aus Platzgründen. Eine mögliche Antwort heisst: Verschwendung. Darum warfen, als Uchatius seinen Artikel schrieb, die Deutschen jedes Jahr «6,7 Millionen Tonnen Lebensmittel in den Abfall, 800'000 Tonnen Kleider in den Container, eine Million Tonnen veraltete oder defekte, aber oftmals noch reparable Handys, Computer, Fernseher, CD-Spieler und Laserdrucker auf den Schrotthaufen», wie er notiert. «Der menschliche Verstand sagt: Das ist Verschwendung. Das ökonomische Kalkül sagt: Das ist wachstumsfördernd.»
So wächst der Berg der Dinge um uns herum munter weiter. «Nie zuvor in der Weltgeschichte besassen Menschen so viele Gegenstände wie heute», schrieb der deutsche Historiker Frank Trentmann 2016 in seinem Bestseller «Empire of Things» (Herrschaft der Dinge). Die Leute in den reichen Ländern ersticken an ihren Besitztümern, diagnostizierte Trentmann. Zwar hätten die Menschen – wenn überhaupt möglich – schon immer mehr besessen, als für ihr Überleben unbedingt notwendig war. Konsum und Streben nach Luxus seien keine spezifisch modernen Phänomene, Konsumgüter seien seit jeher von zentraler Bedeutung für die Identitätsstiftung und soziale Distinktion. Der heutige Überfluss indes sei beispiellos.
Es scheint in der Tat so, dass wir über unsere Besitztümer unsere Identität zumindest mitgestalten. Sag mir, was du konsumierst, und ich sage dir, wer du bist. In unsere Besitztümer projizieren wir das Bild der Person, die wir sind oder gern sein möchten. Sie formen ein «materielles Selbst», wie es der amerikanische Psychologe William James schon 1890 formulierte. Und es scheint, dass dieses materielle Selbst wachsen will und unseren Hunger nach Besitztümern unstillbar macht. So wird das enorme Sammelsurium an Gegenständen, die wir im Laufe unseres Lebens anhäufen, wohl weiter und weiter wachsen.
Alles was man ein Leben lang gehegt und gepflegt hat wird entsorgt. Das einzige was bleibt sind die Erinnerungen in den Gedanken anderer Menschen und auch die verbleichen mit der Zeit bis nichts mehr an diese Existenz erinnert.
Früher hatte man noch normale Arbeitszeiten, heute schafft man kaum ein 100-%-Pensum?
Von wegen, vor nicht allzulanger Zeit war der Samstag noch ein Arbeitstag.
Früher konnte man mit einem Einkommen noch die Miete für eine Familienwohnung bezahlen?
Ja, damals hat aber ein Zimmer für drei Kinder gereicht und man hatte nicht zwei Autos, pro Person ein Smartphone und Ferien am Meer waren eine Ausnahme.
Es war früher nicht alles besser. Das Problem bei kedem Luxus ist, dass wir uns daran gewöhnen.