Unauffällig ducken sich die Gebäude ins Wiesland an der Reuss. «Swissgenetics» steht auf der dezenten Tafel. Was sich hier ausserhalb Mülligens befindet, ist das «Kompetenzzentrum der Samenproduktion». Mit Gartenpflanzen hat das nichts zu tun.
Hier werden Samen für den Stall produziert – für die Kuh. Der Mann, der erklären kann, was sich dahinter verbirgt, trägt Cargohose, Kurzarmhemd und abdunkelnde Brille. Josef Kneubühler, 56, Dr. med. vet., Teamleiter Tierhaltung, ist Chef von 16 Mitarbeitern – und 140 Stieren.
Wir steigen in grüne Overalls und Gummistiefel, desinfizieren unsere Hände. In einem Formular tragen wir unsere Namen ein: Wer den Stallbereich betreten will, darf 72 Stunden vorher keinen Kontakt zu Klauentieren gehabt haben. Ein Stierenpfleger bringt die Munis aus dem Stall in die «Sprunghalle».
Darin führt der Vorbereiter einen der rundherum wartenden Stiere an dessen Arbeitsplatz: Der Muni kann wählen, ob er einen künstlichen, mit Kunstleder überzogenen Bock oder einen anderen, angebundenen Muni bespringen will. Der Experte spricht vom «Torbogenreflex»: «Der Muni sieht nur die Form eines Hintern, das weckt den Trieb in ihm.» Deshalb muss auch ein Bauer, der sich im Stall mit dem Rücken zu einem Muni duckt, aufpassen.
Neben der «Attrappe» wartet der Operateur. «Okay, wär isch dranne?», fragt er den Vorbereiter – «Dä Chrigu chunnt!», antwortet dieser. Chrigu wird am Strick langsam an den Bock geführt, er legt behutsam seinen Kopf auf das künstliche Hinterteil.
Es bewegt sich nicht weg – das ist für ihn das Signal: In einem Ruck stellt sich der Muni auf die Hinterbeine, springt auf, der Operateur steht mit einer Art Rohr bereit, fängt das Produkt ein. Zuvor hatte er den Behälter in der reinen Zone im «Vaginenraum» vorbereitet: Sterilisation, Lagerung im Wärmeschrank. Gleitgel verhindert Verletzungen.
Der Betrieb in der Halle animiert die wartenden Munis: «Eine Art Peepshow», sagt Kneubühler: «Sie sehen, dass etwas geht, und wollen selber auch mittun.» Durch eine Luke kommt der Samen sofort ins Labor, wo er geprüft, verdünnt, in kleine Röhrchen abgefüllt und am Tag darauf in Stickstoff bei minus 196 Grad Celsius eingefroren wird.
Ein guter Muni füllt bis zu 1000 Dosen mit einem Sprung. 2,5 Millionen Dosen werden pro Jahr in Mülligen produziert, 900'000 in der Schweiz verkauft. 500'000 gehen in den Export, andere Rassen werden importiert.
Swissgenetics ist eine Genossenschaft, die den Viehzuchtorganisationen gehört – 90 Prozent aller geborenen Kälber im Land entstehen durch Spermien aus Mülligen. Die grösste Umstellung in der Zucht seit Jahrzehnten ist im Gang: von der bewährten Nachzuchtprüfung auf das neue Verfahren der «genomischen Zuchtwerte».
Kneubühler erklärt es so: «Früher hat man zuerst 400 Kühe mit einem jungen Stier besamt und dann die weiblichen Nachkommen überprüft.» Die Chancen auf ein erfolgreiches Tier: 15 bis 20 Prozent. Neu wird das Genom eines Stieres auf spezielle Marker abgetastet, aufgrund bekannter Zuchtwerte kann davon auf die Eigenschaften des Stieres geschlossen werden. Ergebnis ist ein detailliertes Profil des Stiers.
Noch trauen nicht alle Schweizer Bauern der Technik, in Amerika ist sie bereits Standard. «Wir analysieren nur, wir manipulieren nichts am Genom», betont Kneubühler. Welchen Samen der Bauer für seine Kuh möchte, wählt er in einem Katalog aus. Der erfolgreiche Züchter aber schaue nicht nur aufs Papier: «Er spürt seine Tiere.» Die Preise variieren zwischen 20 und 89 Franken pro Dose. Anfahrt pauschal 12 Franken, Besamen 16 Franken, plus Arbeitszeit.
Der Bauer, der seine brünstige Kuh bis zum Mittag meldet, erhält noch am gleichen Tag Besuch vom Besamungstechniker. Das Netzwerk aus Besamern und Tierärzten ist fein gesponnen, auch im Aargau, der mit Zug und dem Albis eine von 31 Besamungsgruppen bildet. Durchschnittlicher Anfahrtsweg: 7 Kilometer. Auf Wunsch wird gar auf der Alp besamt, wofür der Mitarbeiter in die Wanderschuhe und ins Seilbähnli steigt, samt Lieferung in der Thermosflasche. Rufname: «Rucksackmuni».
Bedient werden alle Gebiete gleichsam, auch wenn eine Lieferung in einen abgelegenen Betrieb für sich nicht zwingend lukrativ ist: «Wir bieten quasi einen Service public», sagt Regionalleiter Richard Schmid. Immer mehr gefragt sind «gesexte Spermien».
Eine US-Spezialfirma hat letztes Jahr in Mülligen ein High-Tech-Labor eröffnet, in dem das Ejakulat in männliches und weibliches Erbgut getrennt wird. Ein Milchbauer gibt so zwar etwas mehr für eine Samendose aus, hat dafür aber Gewissheit, das eine Milchkuh und kein Muni zur Welt kommen wird.
Im Stall läuft Radio SRF 3, ein Mitarbeiter wischt den Boden. Gehalten werden die Tiere in Anbindeboxen – eine Weidehaltung wäre undenkbar: «Die Munis würden die Rangordnung ausmachen, es gäbe Tote.» Doch die 50-jährigen Ställe werden bald ersetzt: Bis Ende 2019 gibt es zeitgemässe Freilaufboxen. Die Planung der Gebäude läuft. Auch sie werden sich unauffällig ins Wiesland ducken.
(aargauerzeitung.ch)