Mit der Annahme der STAF erhält die AHV eine zusätzliche Finanzspritze. Ab 2020 erhält das Sozialwerk jährlich zusätzliche zwei Milliarden Franken. Davon steuert der Bund rund 800 Millionen Franken bei, die mehrheitlich mit Einnahmen aus der Mehrwertsteuer finanziert werden. Arbeitnehmer und Arbeitgeber steuern mit einer Erhöhung der Lohnabzüge um 0,15 Prozentpunkte 1,2 Milliarden Franken zur AHV-Finanzspritze bei.
Nein, die Zusatzfinanzierung verschafft ihr lediglich etwas Luft. Doch die grundsätzlichen Finanzierungsprobleme der AHV sind damit nicht gelöst. Ab 2020 gehen die geburtenstarken Babyboomer-Jahrgänge (Geburtsjahr 1955 bis 1970) in Rente. Damit einher geht, dass immer weniger Werktätige immer mehr Pensionierte finanzieren müssen. Das sogenannte Umlagedefizit der AHV beläuft sich 2030 auf rund 5 Milliarden Franken. Kumuliert fehlen der AHV bis dahin rund 43 Milliarden Franken.
Im Abstimmungskampf hat der Bundesrat immer darauf hingewiesen, dass die STAF lediglich ein erster Schritt zur Sicherung sei, aber kein Ersatz für eine umfassende AHV-Reform. Der letzte Versuch, sowohl die 1. als auch die 2. Säule der Altersvorsorge zu reformieren – das Projekt AV2020 – war im September 2017 an der Urne gescheitert. Kurz darauf präsentierte Sozialminister Alain Berset im Dezember 2017 einen neuen Anlauf. Mit dem Projekt AHV21 soll die AHV bis ins Jahr 2030 stabilisiert werden. Das Projekt enthält vier Massnahmen:
Am 20. Februar 2019 wertete der Bundesrat die Vernehmlassungsantworten von Parteien, Verbänden und Kantonen aus. Die Grundzüge der Reform werden weithin unterstützt, allerdings gibt es an einzelnen Punkten Kritik aus unterschiedlichen Lagern. Für bürgerliche Parteien und Wirtschaftsverbände geht die Erhöhung der Mehrwertsteuer zu weit. Für die Linke und die Gewerkschaften ist die Anpassung des Rentenalters der Frauen tabu, solange keine Lohngleichheit herrscht. Rundherum anerkannt ist die Notwendigkeit von Kompensationsmassnahmen im Falle einer Anpassung des Rentenalters. Allerdings erhielt keine der beiden vom Bundesrat vorgeschlagenen Varianten eine Zustimmung der Mehrheit.
Viel Zuspruch erhalten die Pläne zur Flexibilisierung des Rentenalters, allerdings gibt es Kritik an der Ausgestaltung des Anreizsystems. Der Bundesrat will nun bis Ende August seine Botschaft zur AHV21 verabschieden und die Vorlage ins Parlament schicken. In die Botschaft werden nebst den Ergebnissen der Vernehmlassung auch die mit der Annahme der STAF veränderte Ausgangslage mit einfliessen. An den Grundzügen des Projekts dürfte der Bundesrat jedoch nichts Wesentliches ändern.
Ja, nicht nur der Bundesrat will Neuerungen bei der AHV. Der Gewerkschaftsbund (SGB) etwa hat angekündigt, eine Volksinitiative für eine 13. AHV-Rente analog zum 13. Monatslohn zu lancieren. Gegenüber dem Blick verwies Gewerkschaftsboss Pierre-Yves Maillard auf die in den letzten Jahren gesunkenen Pensionskassenrenten: «Die 13. AHV-Rente ist die beste und für das Gros der Bevölkerung die kostengünstigste Möglichkeit, das Rentenniveau zu halten.» Die Unterschriftensammlung soll Anfang 2020 starten.
Auch die Jungfreisinnigen planen eine Initiative zum Thema AHV. Am Tag nach der STAF-Abstimmung präsentierten sie vier Varianten für eine Volksinitiative zur schrittweisen Anhebung des AHV-Alters. Gemäss Varianten 1-3 soll es zwischen 2027 und 2032 in Schritten von zwei Monaten von 65 auf 66 steigen.
Bei der Variante 1 soll das AHV-Alter an die Entwicklung der Lebenserwartung gekoppelt werden. Laut Medienunterlagen der Jungfreisinnigen bedeutete dies eine jährliche Anhebung des Rentenalters um rund 40 Tage. Gemäss Variante 2 soll das AHV-Alter um zusätzliche zwei Monate angehoben werden, «wenn der AHV-Fonds innerhalb der nächsten vier Jahre unter 100 Prozent einer Jahresausgabe fällt». Variante 3 sieht eine Anhebung auf 66 Jahre ohne weitere Bedingungen vor und Variante 4 will lediglich das AHV-Alter der Frauen auf 65 angleichen. Am 23. Juni soll ein Parteikongress eine Variante auswählen und danach wollen die Freisinnigen noch im Sommer ihre AHV-Initiative lancieren.
Einen anderen Ansatz schlagen die Jungen Grünliberalen (JGLP) vor. Sie wollen die AHV-Rente für besonders Vermögende komplett streichen: «Heute beziehen tausende Superreiche eine AHV-Rente, die sie nicht zur Existenzsicherung brauchen», sagt JGLP-Co-Präsident Tobias Vögeli im «Blick». Mit dem Vorstoss will die Jungpartei Diskussionstabus brechen. Auf einen fixen Grenzwert, oberhalb dem keine AHV-Renten mehr ausbezahlt werden, hat sich die Jungpartei noch nicht festgelegt. Läge diese Grenze bei fünf Millionen Franken Vermögen, wären gemäss Vögelis Berechnungen rund 18’000 AHV-Bezüger betroffen und Einsparungen von rund 500 Millionen möglich.
Den kontroversen Vorschlag knüpft die JGLP allerdings an Bedingungen – die ebenfalls viele Gegner haben dürften: Eine Streichung von AHV-Renten für besonders Vermögende soll es nur geben, wenn gleichzeitig das Rentenalter 67 eingeführt und die Umverteilung von Jung zu Alt in der zweiten Säule gestoppt wird.
Die SVP wiederum prüft gemäss Parteipräsident Albert Rösti eine Initiative, um die AHV aus bestehenden Bundesmitteln zu stärken – und möchte dafür Gelder von der Entwicklungshilfe in die Altersvorsorge umleiten. Allerdings ist das Projekt noch nicht spruchreif.
Auch die berufliche Vorsorge ist finanziell in Schieflage geraten. Wegen der gestiegenen Lebenserwartung müssen die angesparten Altersguthaben über einen längeren Zeitraum hinweg ausreichen. Der Deckungsgrad der Pensionskassen ist in den letzten Jahren gesunken. Wegen des Tiefzinsumfelds ist es für sie unmöglich, auf ihr Kapital einen Gewinn zu erwirtschaften, mit dem sie den Mindestumwandlungssatz von derzeit 6,8 Prozent finanzieren könnten. Dieser schreibt vor, wie das Altersguthaben in der obligatorischen beruflichen Vorsorge beim Erreichen des ordentlichen Rentenalters in eine Rente umzurechnen ist. Damit Pensionierte in der zweiten Säule trotzdem ihre Rente in der gesetzlich vorgeschriebenen Höhe ausbezahlt erhalten, wurden diese zwischen 2014 und 2017 jährlich von Pensionskassenbeiträgen der Berufstätigen in der Höhe zwischen 6 rund 7 Milliarden Franken mitfinanziert.
Aus diesen Gründen will der Bundesrat auch in der zweiten Säule eine Reform. Er hat im April vergangenen Jahres die Sozialpartner dazu eingeladen, gemeinsame Vorschläge zu erarbeiten – eigentlich bis Ende April 2019. Dieser Fahrplan hat sich verzögert, Sozialminister Alain Berset hat den Sozialpartnern eine Verlängerung bis Ende Sommer gewährt. Von einem Kompromiss ist derzeit nichts zu sehen: Der Pensionskassenverband möchte den Mindestumwandlungssatz von 6,8 auf 5,8 Prozent senken. Doch dagegen gibt es Widerstand von links: Gewerkschafter und SP-Nationalrat Corrado Pardini rechnete in der «SonntagsZeitung» vor, dass eine solche Senkung für die Betroffenen Renteneinbussen von bis zu 15 Prozent bedeute: «Für mich sind Senkungen in dieser Höhe absolut undenkbar, zumal noch viel zu viel Geld in den Kassen und Versicherungen versickert.»
Möglich ist, dass das Volk bei der zweiten Säule erst über eine Volksinitiative zu befinden hat, bevor Bundesrat und Parlament eine Reform verabschieden. Eine Komitee unter Vorsitz von Josef Bachmann, Ex-Geschäftsleiter der PwC-Pensionskasse, hat am 2. April 2019 mit der Unterschriftensammlung für die Volksinitiative «Vorsorge Ja – aber fair» begonnen. Der relativ allgemein gehaltene Initiativtext verlangt, Beiträge und Leistungen in der zweiten Säule müssten die «langfristige Generationengerechtigtkeit» gewährleisten. Eine systemfremde Umverteilung in der zweiten Säule soll verboten sein. Die Altersrenten müssten laufend an die Rahmenbedingungen angepasst werden und das Rentenalter an die Lebenserwartung. Und zu guter letzt als wohl umstrittenster Punkt sieht die Initiative vor, dass bereits laufende Altersrenten von Pensionierte «in moderaten Schritten» gesenkt werden können.