Fragt man Orlando Menghini nach der Wohnungsnot in den Bündner Tourismusorten, sprudeln die Anekdoten nur so. Da ist die betagte Frau, die ihre Wohnung verlassen musste. «Ihr Leben lang war sie im Oberengadin daheim, bis ihr die Wohnung gekündet wurde. Doch hier fand sie für sich keine bezahlbare Unterkunft mehr», sagt Menghini. «Nun lebt sie im Puschlav, über eine Stunde entfernt.»
Oder jene Geschwister, die in einem Bündner Dorf ein Haus erbten. «Die Mehrheit der Erbengemeinschaft wollte es zunächst selber als Wohnraum nutzen. Ein Familienmitglied pochte aber darauf, Zweitwohnungen darin zu erstellen, weil das viel lukrativer ist.»
Ganz zu schweigen davon, dass selbst Hoteliers, Bergbahnen und Gewerbetreibende in Tourismusorten nicht mehr wissen, wo ihre Angestellten mit den oft bescheidenen Löhnen wohnen können.
Raumplaner Menghini berät mit seinem Unternehmen Gemeinden im ganzen Kanton in Planungsfragen, auch bekannte Tourismusorte. Dabei hört er Aussagen von Gemeinderäten wie: «Geht es so weiter, droht das Dorf auszusterben.»
In Pontresina ist der Konflikt gerade offen ausgebrochen. Die Gemeinde hat Ende letztes Jahr eine Zweitwohnungssteuer vorgeschlagen: «Zweitheimische», so werden die Besitzerinnen und Besitzer von Ferienwohnungen und -häusern hier genannt, sollen für Wohnungen, die monatelang leer stehen, eine jährliche Abgabe zahlen – es geht je nach Grösse und Auslastungsgrad um wenige Hundert bis mehrere tausend Franken.
Mit der Lenkungsabgabe verfolgt die Gemeinde zwei Ziele: Die Ferienwohnungen besser auszulasten und den Bau von Erstwohnungen zu fördern. Es gehe darum, die Abwanderung aus Pontresina zu bekämpfen, sagte Gemeindepräsidentin Nora Saratz Cazin in mehreren Interviews.
Die betroffenen Ferienwohnungsbesitzer halten wenig vom Vorschlag. Sie sind in der IG Zweitheimische Graubünden organisiert. Es sei falsch, die Schuld an der Wohnungsknappheit allein den Zweitheimischen in die Schuhe zu schieben.
Die demografische Alterung, die Schaffung neuer Arbeitsplätze und dass über 70 Prozent der Bevölkerung allein oder nur zu zweit wohnen, seien Treiber der Entwicklung. Das schreibt die IG Zweitheimische zum Vorschlag der Gemeinde.
Wenn schon, sei die Wohnraumknappheit «eher hausgemacht», seien es doch Einheimische, die Immobilien für die Zweitwohnungsnutzung auf den Markt brächten. Einheimische gegen Zweitheimische – im Ferienparadies hängt der Haussegen schief.
Pontresina schreibt gerade die grössten Schlagzeilen. Doch mit seinen Problemen ist das Dorf nicht allein: Wohnungsnot ist längst nicht mehr nur ein städtisches Problem. Es hat insbesondere die touristischen Hotspots erreicht, in Graubünden, im Berner Oberland, im Wallis.
So ist das Thema inzwischen auch in Bundesbern auf dem Tisch. «Praktisch alle Bezirke im touristischen Alpenraum weisen eine Leerwohnungsziffer von weniger als 1 Prozent aus», sagte Martin Tschirren, Direktor des Bundesamts für Wohnungswesen (BWO) Mitte Januar an einer Tagung in Luzern, die sein Amt mit dem Bundesamt für Raumentwicklung und dem Staatssekretariat für Wirtschaft organisiert hatte.
Fällt der Anteil leerer Wohnungen unter 1 Prozent, spricht man von Wohnungsknappheit. «Zwischen 2000 und 2023 haben sich die Leerstände in Tourismusgebieten praktisch halbiert», sagte Tschirren.
Der Mangel an Erstwohnungen betreffe nicht mehr nur das tiefe Preissegment, sondern alle Preisklassen – es sei «in vielen Gemeinden zu einem wichtigen Thema geworden», nicht nur in Pontresina. Der BWO-Direktor nannte drei aktuelle Beispiele, wo Gegensteuer gegeben wird:
Auch Raumplaner Menghini aus Chur ist an der Tagung aufgetreten. Die Wohnungsnot in den Bergen sei «ein altes Problem in neuer Form», sagt er. Die Dringlichkeit, mit der es jetzt über die Tourismusgebiete komme, führt er in erster Linie auf die Zweitwohnungsinitiative und deren aus seiner Sicht mangelhafte Umsetzung im Zweitwohnungsgesetz zurück.
Zur Erinnerung: Die Initiative «Schluss mit uferlosem Bau von Zweitwohnungen!» wurde 2012 äusserst knapp mit 50,6 Prozent angenommen, dank der Stimmen aus dem Unterland, gegen die Bergkantone. Sie beschränkt den Anteil von Zweitwohnungen pro Gemeinde auf 20 Prozent.
Seither dürfen in praktisch allen touristischen Bergdörfern keine neuen Zweitwohnungen gebaut werden. Allerdings hat das Parlament bei der Umsetzung der Initiative ein Schlupfloch eingebaut: Gebäude, die vor 2012 erstellt wurden, sogenannt altrechtliche Wohnungen, können nach wie vor umgenutzt werden zu Zweitwohnungen. Und das hat jetzt Folgen.
«Wir haben ein Neubauverbot für Zweitwohnungen und zugleich ein beschränktes Angebot an altrechtlichen Wohnungen», sagt Menghini, «da darf man sich nicht wundern, wenn die Preise für altrechtliche Bauten ins Unermessliche steigen. Es ist eine Preisspirale, bei der die kaufkräftigen auswärtigen Gäste sehr hohe Preise zahlen können, die Einheimischen meist aber auf der Strecke bleiben.»
Wobei nicht bloss die Zweitwohnungsbesitzer angeprangert werden dürfen:
In seinem Referat an der Tagung in Luzern präsentierte Menghini ein Bündel von Lösungsansätzen, die in mehreren Gemeinden bereits angewendet werden oder zumindest zur Diskussion stehen:
Zum Teil tönt das nach Zukunftsmusik. Doch in der Bündner Gemeinde Flims ist vieles davon bereits Realität.
Werden altrechtliche Wohnungen umgebaut, abgebrochen und wieder aufgebaut, muss die Hälfte der gesamten Wohnfläche als Erstwohnung genutzt werden. Ausgenommen sind Erweiterungen der Wohnfläche bis 30 Prozent und gewöhnliche Renovationen. Immobilienbesitzer können sich freilich von der Erstwohnungsverpflichtung freikaufen: Pro Quadratmeter zahlen sie eine Ersatzabgabe von 2500 bis 3500 Franken. Dieses Geld wird für den Bau von bezahlbarem Wohnraum für Einheimische und Arbeitskräfte verwendet, auf Parzellen, welche die Gemeinde im Baurecht abgibt. Zudem verbietet Flims die Umnutzung von Hotels zu Zweitwohnungen.
Diese Regeln hat die Bevölkerung von Flims letzten November mit 73 Prozent Ja-Stimmen gutgeheissen. Dies nach einer drei Jahre dauernden Vorbereitung, während der die Bevölkerung wiederholt einbezogen wurde. Was ist das Erfolgsrezept? «Das Beispiel Flims zeigt, dass nur ein ausgewogener Mix von Massnahmen mehrheitsfähig ist und entsprechend Wirkung entfalten kann», sagt Gemeindepräsident Martin Hug dazu.
(aargauerzeitung.ch)