Viola Amherd und Ignazio Cassis war vermutlich bewusst, dass sie es an der Münchner Sicherheitskonferenz vom Wochenende nicht leicht haben würden. Schon am WEF in Davos im Januar war die Weigerung des Bundes, anderen Ländern die Weitergabe von in der Schweiz gekauften Waffen und Munition an die Ukraine zu erlauben, hart kritisiert worden.
Seither hat sich die Lage im Kriegsgebiet verschärft. Russland hat seine Winteroffensive begonnen und setzt die Ukrainer vor allem im Donbass massiv unter Druck. Die Stimmung in München war entsprechend düster. «Wir stehen vor einer militärischen Eskalation. Das ist, was man hier gut spürt», sagte Aussenminister Cassis am Samstag dem SRF.
Entsprechend gross ist das Unverständnis über die Schweizer Haltung in der Waffenfrage. Man anerkennt zwar, dass direkte Lieferungen wegen des Neutralitätsrechts, das die Gleichbehandlung aller Konfliktparteien vorschreibt, nicht möglich sind. Die verweigerte Wiederausfuhr von Rüstungsgütern aber wird von den westlichen Ländern nicht goutiert.
Jene Vertreter europäischer Länder, mit denen sie gesprochen habe, hätten die Position der Schweiz «nicht verstanden», sagte Verteidigungsministerin Amherd am Samstag der Zeitung «Le Temps». Die Schweiz müsse «eine Isolation vermeiden», warnte sie und verwies auf die Diskussionen im Parlament über das Kriegsmaterialgesetz: «Es wird vielleicht eine Änderung geben.»
Die Betonung liegt auf «vielleicht», denn die Hoffnungen auf eine Lockerung der erst 2021 verschärften Ausfuhrbestimmungen haben ebenfalls am Wochenende einen argen Dämpfer erlitten. Drei Vorschläge für eine Gesetzesrevision liegen auf dem Tisch. Doch nun sieht es so aus, als ob sie in der parlamentarischen Beratung Schiffbruch erleiden könnten.
Als völlig chancenlos gilt die von der Mitte-Partei angeregte «Lex Ukraine». Sie möchte die heutige Regelung aufheben, wenn die Waffen für die Ukraine bestimmt sind. Wegen des Neutralitätsrechts müsste die Schweiz jedoch auch Gesuche für die Weitergabe an Russland genehmigen. Der Imageschaden in diesem Fall wäre nicht auszudenken.
Schwierig wird es auch für die SP-Motion, die eine Wiederausfuhr ermöglichen will, wenn der UNO-Sicherheitsrat oder zwei Drittel der UNO-Generalversammlung einen Konflikt als völkerrechtswidrig einstufen. Für Rechtsexperten aber braucht es zwingend eine Resolution des Sicherheitsrats, und die ist im konkreten Fall wegen Russlands Vetorecht undenkbar.
Die Sicherheitspolitische Kommission (SiK) des Ständerats wiederum schlägt in etwa vor, dass westlich-demokratische Länder nach fünf Jahren keine Bewilligung zur Weitergabe mehr benötigen, falls die Waffen zur Selbstverteidigung bestimmt sind. Zweifelhafte Kunden der Schweizer Rüstungsindustrie wie Pakistan und Saudi-Arabien würden nicht profitieren.
Die Idee ist clever, doch selbst bei diesem Vorstoss besteht Absturzgefahr. Denn noch während Amherd und Cassis in München um Verständnis für die Schweiz warben, sprachen sich die Fraktionen von SVP und SP ganz oder teilweise gegen eine Lockerung des Kriegsmaterialgesetzes aus. Damit droht eine «unheilige Allianz» im Nationalrat.
«Zum jetzigen Zeitpunkt besteht die Gefahr, dass wir am Ende keine mehrheitsfähige Lösung haben», sagte FDP-Präsident Thierry Burkart der «NZZ am Sonntag». Er unterstützt die ständerätliche Initiative, die auf einer von ihm eingereichten Motion basiert. Doch nun habe die SVP «den Vorschlag faktisch abgeschossen», stellte der Aargauer Ständerat fest.
Tatsächlich verwarf die SVP-Fraktion am letzten Freitag alle vorliegenden Ideen in Bausch und Bogen. Mit Verweis auf die «immerwährende, bewaffnete und umfassende Neutralität» lehnte sie «sowohl direkte als auch indirekte Waffenlieferungen an die Ukraine klar ab». Das ist nur auf den ersten Blick konsequent. Die SVP verhält sich höchst widersprüchlich.
So hatte sich der Berner Ständerat Werner Salzmann für eine Lockerung starkgemacht, aus Sorge um die Rüstungsindustrie. Die SVP habe sich vom bürgerlichen Konsens «leider verabschiedet», wonach die bewaffnete Neutralität der Schweiz nur mit einer eigenen konkurrenzfähigen Rüstungsindustrie gewährleistet werden könne, kritisierte Thierry Burkart.
Die Positionierung der SVP sei «ein politisches Spiel auf dem Rücken der Sicherheit und der Sicherheitsindustrie des Landes», meinte Stefan Brupbacher, Direktor des Industrieverbands Swissmem, in der «Schweiz am Wochenende». Er erinnerte daran, dass die Volkspartei die Verschärfung des Kriegsmaterialgesetzes vor eineinhalb Jahren noch abgelehnt habe.
Sie war als Gegenvorschlag zur linksgrünen Korrektur-Initiative verabschiedet worden. Nun wird er ausgerechnet von der SVP eisern verteidigt. Dabei hatte sogar Christoph Blocher im «Blick» angetönt, er könne sich eine Lockerung vorstellen: «Viele haben mittlerweile erkannt, dass wir uns ein Problem eingebrockt haben. Nun müssen wir halt entsprechend handeln.»
Dieser Erkenntnis hat sich die SVP verweigert. Die Grünen wiederum bleiben ihrer pazifistischen Grundhaltung treu. Sie haben Ende Januar in Genf eine Aufweichung der Waffenexportregeln selbst für die Ukraine klar abgelehnt. Gleich sieht es eine «substanzielle Minderheit» der SP-Fraktion, wie Nationalrätin Min Li Marti gegenüber Tamedia erklärte.
Die Fraktion hat am Samstag zwar die Motion ihrer eigenen Sicherheitspolitiker unterstützt, alle anderen Vorschläge aber verworfen. Die pazifistischen Stimmen kämen vor allem aus der Romandie, sagte Marti der «NZZ am Sonntag». Damit sind nur FDP, Mitte und GLP klar für eine Lockerung. Das reicht für eine Mehrheit im Ständerat, nicht aber im Nationalrat.
In der nächste Woche beginnenden Frühjahrssession sind erste Debatten traktandiert. Sie könnten zu einem Totalschaden führen, nicht nur was die Weitergabe von Waffen und Munition an die Ukraine betrifft. Viola Amherd dürfte nicht ohne Grund vor einer Isolation der Schweiz gewarnt haben. Je nach Kriegsverlauf könnte der Druck weiter zunehmen.
Für die Rüstungsindustrie geht es ums Überleben. Deutschland hat angetönt, keine Munition mehr in der Schweiz kaufen zu wollen. Man muss die Waffenfabrikanten nicht mögen, aber die Schweiz hat erlebt, wie heikel es ist, sich bei strategisch wichtigen Gütern vom Ausland abhängig zu machen. Doch die Parteien kochen ihr eigenes Süppchen.
Am Montag und Dienstag trifft sich die Sicherheitspolitische Kommission des Nationalrats. Min Li Marti und Thierry Burkart äusserten am Wochenende die vage Hoffnung, dass sie doch noch eine mehrheitsfähige Lösung «ausbrüten» könnte. Der FDP-Präsident möchte primär die SP ins Boot holen, denn die gegenwärtige Rechtslage helfe «einzig Russland».
Es fragt sich nur, wie ein solches «Ei des Kolumbus» aussehen soll. Denn eigentlich zeigt schon der Vorschlag des Ständerats einen gangbaren Weg auf. So aber hat der Bundesrat vielleicht nur die Wahl zwischen Pest und Cholera: Er kann die Weitergabe von Waffen mit Notrecht ermöglichen, was nicht nur wegen der Neutralität höchst problematisch wäre.
Oder es kommt zur Schlaumeier-Lösung: Die betroffenen Länder – Deutschland, Dänemark, Spanien – liefern die Rüstungsgüter ohne Erlaubnis, die Schweiz protestiert pro Forma, und die Sache ist gegessen. Elegant wäre das nicht, sondern eher «bigott», wie der deutsche Politologe Herfried Münkler meinte. Aber vielleicht geht es am Ende nicht anders.