Etwas mehr als zwei Jahre sind vergangen, seit der Bundesrat das Rahmenabkommen mit der Europäischen Union für gescheitert erklärt hatte. Lange hatte er sich um innenpolitische Zustimmung zu dem seit November 2018 vorliegenden Vertragswerk bemüht. Am Ende kapitulierte er vor dem Widerstand nicht nur von rechts, sondern auch von links.
Brüssel war verärgert und legte die Beziehungen «auf Eis». So wird der Schweiz bis heute die Teilnahme am Forschungsprogramm Horizon Europe verweigert. Seit einem Jahr wird in «Sondierungsgesprächen» um einen Neustart gerungen. Viel weiss man nicht, doch grosse Zugeständnisse konnte Chefunterhändlerin Livia Leu offenbar nicht herausholen.
Dennoch waren seit Jahresbeginn positive Ansätze erkennbar. Aussenminister Ignazio Cassis (FDP) blieb in seinem Departement und wirkte im Europadossier motivierter als auch schon. Unterstützung erhielt er von den Kantonen, die den Bundesrat im März aufforderten, die Sondierungen zu beenden und formelle Verhandlungen mit Brüssel aufzunehmen.
Der Elan, wenn es ihn denn je gab, scheint jedoch bereits verflogen. Am Mittwoch beriet der Bundesrat zum x-ten Mal über die EU-Beziehungen. Und entschied einmal mehr, nichts zu entscheiden. Ein Verhandlungsmandat für ein neues Rahmenabkommen soll erst nach den Wahlen im Oktober verabschiedet werden. Man will der SVP keine Munition liefern.
«Der Bundesrat hat Angst», ärgerte sich ein Kantonsvertreter im Gespräch mit watson. Denn längst geben wieder die Bremser den Ton an. In diversen Bereichen werden Bedenken gegen eine weitere Annäherung an die EU und eine Festigung des bilateralen Wegs durch ein institutionelles Abkommen geäussert, auch von bisherigen Befürwortern.
Zu diesen gehört der Verband Interpharma. Er hatte sich stets für eine Lösung mit der EU eingesetzt. Nun zeigt er sich auf einmal skeptisch gegenüber einem möglichen Gesundheitsabkommen, weil damit vielleicht (!) eine Marktöffnung verbunden ist. Man kennt das aus der Gesundheitspolitik: Geht es um die eigenen Pfründe, ist Schluss mit lustig.
Die Eisenbahn-Gewerkschafter wollen nichts wissen von einer Öffnung des Schweizer Schienennetzes für ausländische Anbieter, vor allem Flixtrain. Vorbehalte gibt es auch gegen ein Strom- oder Energieabkommen, obwohl die Branche ein solches als dringlich erachtet. Doch die Schweiz muss dafür womöglich ihren Strommarkt liberalisieren.
Auch der Gewerkschaftsbund findet wieder ein Haar in der Suppe. Der für die Schweiz zuständige EU-Vizepräsident Maros Sefcovic hatte bei seinem Besuch im März Zugeständnisse beim Reizthema Lohnschutz in Aussicht gestellt. Jetzt aber ist es das Spesenreglement der EU, das den Schweizer Gewerkschaftern sauer aufstösst.
Wenn es darum geht, Haare in der EU-Suppe zu finden, sind die Schweizer Bedenkenträger sofort zur Stelle. Sie übersehen, dass in der Brüsseler Küche ständig neue Gerichte kreiert werden. In letzter Zeit hat die Europäische Union Projekte in einem Tempo vorgelegt und beschlossen, bei dem einem schwindlig werden könnte. Hier ein paar Beispiele:
Natürlich ist weiterer Streit programmiert, vor allem beim Thema Migration. Offen bleibt, was wie umgesetzt werden kann. Doch angesichts der Aufgabe, die Interessen von 27 Mitgliedsstaaten unter einen Hut zu bringen, sind diese Fortschritte, die alle in jüngster Zeit erreicht wurden, bemerkenswert. Weitere Beispiele liessen sich problemlos finden.
Nun zeigt sich, dass Brexit und Ukraine-Krieg nicht zum – von manchen in der Schweiz erhofften – Zerfall der Europäischen Union geführt, sondern sie im Gegenteil gefestigt haben. Das äussert sich in vielerlei Hinsicht. So gibt sich die rechte Regierung in Italien handzahm, und die notorischen Querschläger in Polen und Ungarn sind marginalisiert.
Es ist bezeichnend, dass man in der zur Nabelschau neigenden Schweiz diese Dynamik in der EU nicht zur Kenntnis nehmen will. Gleichzeitig sind die Widerstände gegen eine weitere Annäherung entlarvend. Sie zeigen, wie stark die angeblich liberale Schweiz weite Teile von Wirtschaft und Service Public vom Wettbewerb abschottet.
Für den Bundesrat wird das zu einer fast unlösbaren Aufgabe. Während sich die Fronten in der Schweiz verhärten, gibt die EU Vollgas. Am Ende bleiben vielleicht nur zwei Optionen: Man beendet alle Bemühungen und versucht, den Schaden mit dem «autonomen Nachvollzug» in Grenzen zu halten. Oder man geht auf Tutti, zum Beispiel mit dem EWR.
Mir geht es bestens und nicht schlechter als füher in der Schweiz.
Liebe Grüsse aus Dublin.