Leu-Abgang und Ukraine-Waffen: Die Schweiz bewegt sich doch
Am 9. Mai feiert Russland den «Tag des Sieges». Dieses Jahr fühlte er sich eher an wie ein Tag der sich anbahnenden Niederlage. Weiter westlich hat dieses Datum eine ganz andere Bedeutung. Am 9. Mai 1950 hatte der französische Aussenminister Robert Schuman mit einer Rede den Grundstein gelegt für die Schaffung der heutigen Europäischen Union.
Deshalb wird am 9. Mai jeweils der Europatag begangen. Auch die Botschaft der EU in Bern lud am Dienstag zum Empfang in der Orangerie Elfenau, mit zwei «illustren» Gästen: Iryna Wenediktowa, die neue Botschafterin der Ukraine, und Aussenminister Ignazio Cassis. Der Tessiner hinterliess nicht den Eindruck, sich in «Feindesland» zu bewegen.
Toast à l’unité de l’Europe, paix et prospérité.
— EU-Delegation Berne (@EUinSwitzerland) May 9, 2023
Auf die Freundschaft EU-Schweiz.
And to an independent, democratic and free Ukraine!#EuropeDayBern 🇪🇺🎉🇨🇭@MavromichalisEU @ignaziocassis @EDA_DFAE pic.twitter.com/SfM7rm59EI
Cassis war bester Laune und unterhielt sich angeregt mit EU-Botschafter Petros Mavromichalis. In seiner Rede blieb er unverbindlich, doch immerhin lobte er die «positive Dynamik» in den Gesprächen mit Brüssel. Das wäre ein Fortschritt, denn seit der Bundesrat vor zwei Jahren das Rahmenabkommen versenkt hatte, war das Verhältnis frostig.
Schon die Nummer 5
Kaum neigte sich der Empfang dem Ende zu, veröffentlichten die Tamedia-Zeitungen die Meldung, wonach Staatssekretärin und Chefunterhändlerin Livia Leu den Bettel hinschmeissen und ihre Diplomatenkarriere auf dem Prestigeposten in Berlin ausklingen lassen will. Tags darauf folgte die offizielle Bestätigung durch den Bundesrat.
Die Reaktionen waren skeptisch bis negativ. Denn Leu war schon die fünfte Schweizer Chefunterhändlerin, seit die Verhandlungen über ein institutionelles Abkommen mit der EU vor zehn Jahren begonnen hatten. Und die dritte in Cassis’ Amtszeit. Für Kontinuität spricht das nicht, zumal die Trennung in den meisten Fällen unfreiwillig erfolgt war.
«Gut und respektvoll»
Livia Leu betonte vor den Medien, es sei «eine persönliche Entscheidung» gewesen, wieder als Botschafterin ins Ausland zu gehen. Das Verhältnis zu ihrem Chef bezeichnete sie als «gut und respektvoll». Aus dem Diplomatenjargon übersetzt heisst das: Man hat sich arrangiert, aber viel mehr war nicht, schon gar kein enges Vertrauensverhältnis.
In Bern war es ein offenes Geheimnis, dass es zwischen Cassis und Leu gekriselt hatte. Die (wenigen) Europafreunde im Parlament werden ihr keine Träne nachweinen. Zu vorsichtig und defensiv war die Staatssekretärin nach ihrem Geschmack unterwegs. Der erhoffte Neustart mit der EU kam bislang nicht über mehrere «Sondierungsgespräche» hinaus.
Chance für Neuanfang
Fast ritualmässig betonte Livia Leu danach, es gebe noch «grosse Differenzen». Ewig sondieren aber kann man nicht, auch wenn das Dossier delikat ist und weder die Schweiz noch die EU einen erneuten Scherbenhaufen riskieren wollen. Der Bundesrat hat deshalb im März angekündigt, bis Ende Juni über ein Verhandlungsmandat entscheiden zu wollen.
Es ist kein Verlust, sondern eher ein Gewinn, wenn eine neue Person diese Verhandlungen führt. Selbst Livia Leu betonte am Mittwoch, Sondierungen und Verhandlungen seien «nicht dasselbe». Und die Chancen für einen erfolgreichen Abschluss stehen besser als auch schon, denn zuletzt zeichnete sich eine Art Tauwetter im Verhältnis mit der EU ab.
Charmeoffensive des Kommissars
Das beginnt mit Aussenminister Cassis, der in der Europafrage motivierter wirkt als auch schon. Das zeigte nicht nur sein Auftritt am Europatag. Denn in der Schweiz wächst der «Leidensdruck» zum Abschluss neuer bilateraler Verträge, etwa bei der Energie- und der Medikamentenversorgung. Solche aber gibt es nur mit einem Rahmenabkommen.
Ein eigentlicher «Knackpunkt» aber war der Besuch von Maroš Šefčovič Mitte März, dem für die Schweiz zuständigen Vizepräsidenten der EU-Kommission. Der Slowake nutzte ihn für eine Charmeoffensive, nicht ohne Erfolg. Sein Treffen mit Ignazio Cassis, dem der Bundesrat nur zögerlich zugestimmt hatte, verlief offenbar ausgesprochen harmonisch.
Bewegung beim Lohnschutz?
Auch bei seinem Gespräch mit den Gewerkschaften hinterliess der EU-Kommissar einen positiven Eindruck. «Grob gesagt hat Herr Šefčovič Zugeständnisse gemacht, in dem Sinne, dass die Schweiz eine Absicherung des bestehenden Lohnschutzes bekommt», sagte Adrian Wüthrich, Präsident des Dachverbands Travail.Suisse, dem SRF.
Im Gespräch mit watson am Europatag hatte Wüthrich identische Aussagen gemacht. Die Hoffnungen basieren auf dem sogenannten Windsor-Abkommen zu Nordirland, in dem die EU gegenüber Grossbritannien ähnliche Konzessionen gemacht habe. Zuständig dafür war ebenfalls Maroš Šefčovič. Das wird als positives Signal gedeutet.
Bewegung in der Waffenfrage
Der Gewerkschaftsbund als grössere der beiden Dachorganisationen hat sich noch nicht geäussert. Er will die flankierenden Massnahmen von der Dynamisierung und der Rechtsprechung durch den Europäischen Gerichtshof (EuGH) ausnehmen, doch das bleibt schwierig. Denn letztlich geht es um die Personenfreizügigkeit, ein Grundprinzip der Union.
Ohne Kompromisse von beiden Seiten wird es kaum gehen. Aber die jüngsten Ereignisse zeigen, dass die Schweiz sich bewegt. Das gilt auch für den Entscheid der Sicherheitspolitischen Kommission (SiK) des Ständerats vom Donnerstag, die Weitergabe von Schweizer Waffen an Drittstaaten unter bestimmten Bedingungen zu ermöglichen.
EU will Abschluss bis Sommer 2024
Ob die Ukraine davon profitieren kann, ist offen. Denn bis eine entsprechende Revision des Kriegsmaterialgesetzes vorliegt, dürfte einige Zeit vergehen, inklusive mögliches Referendum, wie der Berner SVP-Ständerat und SiK-Präsident Werner Salzmann betonte. In Europa aber könnte ein solches Signal der Schweiz positiv wahrgenommen werden.
Es wäre eine Überraschung, wenn sich der Bundesrat im Juni nicht für die Aufnahme von offiziellen Verhandlungen mit der EU entscheiden würde, mit einem neuen Chefunterhändler oder einer Unterhändlerin. Die Voraussetzungen sind günstiger als auch schon, denn die EU hofft auf einen Abschluss bis Sommer 2024, vor dem Amtsantritt einer neuen Kommission.
Das ist sehr ambitioniert, vor allem wenn man die bisherigen fruchtlosen Bemühungen um eine Regelung der institutionellen Fragen betrachtet, die den bilateralen Weg absichern soll. Unmöglich aber ist es nicht, denn das Rad muss man wirklich nicht neu erfinden.
