Seit gestern Freitag ist es klar: Die Sozialdemokratische Partei will dem Parlament nur zwei Frauen zur Wahl in den Bundesrat vorschlagen. Der Entscheid der SP-Fraktion kam nach tagelangem Streit darüber, ob es nicht vielleicht doch ein Mann sein sollte und ob diese Art der Frauenförderung noch zeitgemäss sei. Klar ist: Über die Art und Weise, wie eine ideale Vertretung aller Geschlechter in der Regierung oder im Parlament erreicht werden kann, darf und soll gestritten werden.
Der Blick in die Daten der Geschichte zeigt aber auch, dass die Schweizer Politik rund hundert Jahre lang nur von Männern regiert wurde und diese noch länger ihre Macht nicht teilen wollten. Gefestigt wurde dieser historische Fehler der Schweiz nicht nur durch die späte Einführung des Frauenstimmrechts im Jahr 1971.
Eine anständige Vertretung der Frauen (welche die Mehrheit im Volk stellen) hätte auch erreicht werden können, wenn die Politik aus einem «Psychodrama» der 1990er-Jahre gelernt hätte. Gemeint damit ist der Entscheid des Bundesparlaments im Jahr 1993, nach einem konstruierten und sexistischen Shitstorm die SP-Politikerin Christiane Brunner nicht in den Bundesrat zu wählen.
Brunner war eine kämpferisch auftretende Gewerkschafterin und eine Hoffnungsträgerin der Frauenbewegung. Sie kannte die Bundesverwaltung von innen, praktizierte jahrelang als Anwältin, sprach perfekt die beiden Landessprachen Deutsch und Französisch. Und sie wusste, wie sie sich medial in Szene setzt – Klatschblätter bewunderten ihr Leben als geschiedene Frau mit einer zusammengewürfelten Familie. Ihr aus damaliger Sicht progressiver Lebensstil passte aber den konservativen Männern nicht. Es kamen sexistische Sprüche, Gerüchte und Drohungen auf: Es gebe Nacktfotos von ihr und sie hätte illegal eine Abtreibung vorgenommen.
Es folgte das, was die NZZ und sogar ein gescheiterter männlicher SP-Bundesratskandidat später als «Psychodrama» zusammenfassten: Ein Mann wurde an der Stelle von Brunner gewählt. Frauen von Genf bis St.Gallen empörten sich, es kam zu Protesten und der besagte Mann lehnte die Wahl ab, womit an der Stelle von Brunner eine andere Frau namens Ruth Dreifuss in den Bundesrat gewählt wurde.
Die Protestwelle blieb nicht ohne Konsequenzen: In Gemeinde- und Kantonsparlamenten wurden in den Monaten danach vermehrt Frauen gewählt, was heute als «Brunner-Effekt» bezeichnet wird. Die Frauenbewegung wollte aber mehr: In Erinnerung an Christiane Brunners Nichtwahl lancierten sie eine Frauenquoten-Initiative, welche im Bundesrat konkret mindestens drei Frauen forderte.
Die Initiative war nicht sonderlich beliebt. Sie fand vorwiegend Unterstützung im linksgrünen Milieu. Christiane Brunner ahnte das und schlug zwei Jahre vor der Volksabstimmung einen Kompromiss vor. Der Zeitpunkt – es war der Herbst 1998 – wäre eigentlich ideal dafür gewesen: In dieser Zeit debattierte das Parlament über die Zukunft der Schweiz und der Verfassung und vor allem über die Frage, wie denn der Bundesrat zusammengesetzt sein sollte.
Es herrschte der Konsens, dass die damalige Regel mit der Kantonsklausel gelockert werden musste: Sie verhinderte über ein Jahrhundert lang die Wahl von zwei Bundesräten aus demselben Kanton. Das Ziel dieser Klausel war zwar eine regional besser repräsentierte Landesregierung, sie wurde aber nicht immer strikt eingehalten und führte angeblich dazu, dass nicht immer «die Besten» in den Bundesrat gewählt werden durften.
Die Absurdität der strikten Regel zeigte sich ausgerechnet bei Ruth Dreifuss, die anstelle von Christiane Brunner in den Bundesrat gewählt wurde: Die Berner SP-Politikerin Dreifuss musste ihre Schriften in den Kanton Genf zügeln, um die Kantonsklausel erfüllen zu können und damit überhaupt gewählt werden zu dürfen.
Die neue Formulierung, die damals auf dem Tisch stand, setzte sich bis heute durch: Bei der Bundesratswahl soll lediglich «Rücksicht» genommen werden, dass «die Landesgegenden und Sprachregionen angemessen vertreten sind». Es war also lediglich ein Gebot, welches Christiane Brunner mit der Geschlechtervertretung erweitern wollte.
In ihrer Begründung betonte sie: «Ich verlange nicht eine Quote!» Sie rief aber das Parlament dazu auf, auch eine angemessene Vertretung der Männer und Frauen zu berücksichtigen, wenn es bei der Formulierung als «Gebot» bleibt. Ihr Antrag war aber chancenlos: Er wurde mit 8 zu 31 Stimmen abgelehnt, weil es bei der Debatte über die Kantonsklausel im männlich dominierten Ständerat (nur 8 von 46 Mitgliedern waren Frauen) vor allem um kantonale Bedürfnisse und weniger um Geschlechterrepräsentanz ging.
Brunners Kompromissvorschlag als inoffizieller Gegenvorschlag zur Frauenquoten-Initiative fand nicht einmal grosse Beachtung in der Presselandschaft. Die am wenigsten respektvolle Formulierung war in der NZZ zu lesen, welche die Ständeratsdebatte mit folgenden Sätzen zusammenfasste:
Die Abschaffung der Kantonsklausel und Einführung einer «Soll berücksichtigt werden»-Formulierung hatte auffällige Folgen: Parteien, Fraktionen, das Parlament als Ganzes und vor allem die Öffentlichkeit hielten sich an das Gebot.
Jedes Mal, wenn es seither zu Bundesratswahlen kam, wurde über die sprachliche und regionale Herkunft der Kandidierenden gesprochen und eine bessere Vertretung gefordert.
Die Lockerung der Kriterien erlaubte zwar 2010 die Wahl von zwei Bundesratsmitgliedern aus dem Kanton Bern (Simonetta Sommaruga und Johann Schneider-Ammann), was aber mehrheitlich als «Tolggen im Reinheft» betrachtet wurde. Sprich: als temporäre Unschönheit, die möglichst nicht zur Regel werden sollte. Das Gebot führte vor wenigen Jahren auch dazu, dass Tessiner Stimmen gestützt auf die Bundesverfassung wieder einmal einen Bundesrat fordern durften und ihn auch mit Ignazio Cassis bekamen.
Geht es aber ums Geschlecht, fehlt ein solcher Konsens. Die SVP wurde kaum dafür kritisiert, dass sie noch nie in ihrer bisherigen Parteigeschichte eine Frau im Bundesrat hatte. Aus der FDP gab es viel Kritik für die SP, obwohl die Freisinnigen 2018 selbst über ein Frauenticket diskutierten, weil sie vor Karin Keller-Sutter rund 30 Jahre lang nur Männer im Bundesrat hatten. Und die SP selbst? Sie entschied sich, nach der Erfahrung der 1990er-Jahre ihre Konsequenzen zu ziehen und zumindest parteiintern eine ausgeglichene Geschlechtervertretung bei Bundesratswahlen anzustreben.
Der fehlende Konsens punkto Geschlechtervertretung ist jedoch nicht nur auf Bundesebene auffällig. Auf kantonaler Ebene gibt es ganze Regierungsräte ohne eine einzige Frau. Fehlt aber einmal ein wichtiger Bezirk in der Exekutive, so gehen Linke wie auch Bürgerliche auf die Barrikaden. Oder man schafft wie im Kanton Bern Sonderregeln, damit das historisch benachteiligte Berner Jura immer mindestens einen Sitz im Regierungsrat erhält.