Schweiz
Analyse

Corona-Experten waren überrascht? 4 Aussagen von Guy Parmelin im Check

Bundespraesident Guy Parmelin in seinem Buero im Bundeshaus Ost, vor der Aufzeichnung der Neujahrsansprache fuer das Jahr 2021, am Mittwoch, 30. Dezember 2020, in Bern. (KEYSTONE/Marcel Bieri)
Bundespräsident Guy Parmelin in seinem Büro im Bundeshaus Ost, vor der Aufzeichnung der Neujahrsansprache 2021. Bild: keystone
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Sagt der Bundespräsident die Wahrheit? 4 Aussagen von Guy Parmelin im Faktencheck

Mit einem seiner ersten Interviews als neuer Bundespräsident sorgte Guy Parmelin am Wochenende für Aufmerksamkeit. Einige Aussagen sorgten besonders bei Epidemiologen für rote Köpfe. 4 Zitate Parmelins im Faktencheck.
04.01.2021, 15:3305.01.2021, 18:42
Helene Obrist
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Die folgenden vier Aussagen sind Auszüge aus dem Interview, das der Sonntagsblick am 3. Januar 2021 mit Guy Parmelin geführt hat.


«Auch viele Spezialisten waren überrascht, als die Fälle plötzlich wieder derart schnell anstiegen.»

Bundespräsident Parmelin bezieht sich mit dieser Aussage auf die ansteigenden Corona-Fälle im Herbst. Zuvor räumt er zwar ein, dass man die Lage im Juli bis September unterschätzt habe. Das Virus sei im Sommer aber nicht nur für die Politik, sondern auch für die Wissenschaft weit weg gewesen.

Wen Parmelin genau mit «Spezialisten» meint, führt er nicht weiter aus. Meint er damit die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Corona-Taskforce des Bundes, dann ist seine Aussage falsch. Denn die Taskforce warnte bereits am 3. Juli mit einem Alert vor dem rapiden Anstieg der SARS-CoV-2-Infektionen.

«Es ist äusserst wichtig, rasch zu reagieren», schrieb die Taskforce im Policy Brief und fügte an: «Wenn die Massnahmen zu spät eingeführt werden, erschwert dies die Kontrolle der Epidemie und die Vermeidung einer zweiten Welle.»

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bild: screenshot/sciencetaskforce.ch

Doch auch ausserhalb der Taskforce wehren sich Expertinnen und Experten gegen Parmelins Aussage. «Keiner der Experten war überrascht», schreibt beispielsweise Isabella Eckerle, Virologin und Leiterin des Zentrums für Viruserkrankungen in Genf, auf Twitter. Viele Experten hätten sich den Sommer über den «Mund fusselig geredet». Und auch der Berner Epidemiologe Christian Althaus kritisiert, dass der Bundesrat im Sommer die Warnungen der Taskforce offenbar nicht ernst genommen habe.

Einzig der Epidemiologe Marcel Salathé sagte im September gegenüber der SonntagsZeitung, dass es in der Schweiz punkto Virus «wirklich gut aussehe».

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«Niemand, nicht einmal die Wissenschaft, kann der Politik sagen, mit welchen Massnahmen die Probleme innert drei, vier Wochen gelöst wären.»

Mit dieser Aussage führt Parmelin aus, dass niemand den idealen Lösungsweg in der Schublade hat. Das mag stimmen. Doch wiederum präsentierte die wissenschaftliche Taskforce des Bundes Mitte November einen ziemlich genauen Fahrplan mit Etappenzielen bis im Januar 2021.

«Mit diesen wissenschaftlich fundierten Etappenzielen will die Taskforce der Bevölkerung ein realistisches Ziel vor Augen halten», sagte Marcel Tanner, Epidemiologe und Mitglied der Taskforce, im November gegenüber SRF. Tanner fügte auch an, dass Massnahmenverschärfungen nötig seien, wenn die Zahlen nur langsam stagnieren oder sich die Lage erneut verschlechtert.

Etappenziele der Corona-Taskforce Mitte November

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bild: watson

Der Fahrplan dauert zwar länger als vier Wochen. Dennoch versuchte die Taskforce wissenschaftlich fundiert und realistisch aufzuzeigen, in welcher Zeitspanne man die Probleme lösen könnte, wenn die Massnahmen von der Bevölkerung eingehalten werden. Und sie sprach sich auch für schärfere Massnahmen aus, wenn die Etappenziele verfehlt werden.

Parmelins Aussage lässt sich zwar nicht als komplett falsch beurteilen, da wohl niemand die Probleme innerhalb von vier Wochen lösen kann. Dennoch macht die bundesrätliche Taskforce immer wieder klare Angaben, mit welchen Massnahmen in welcher Zeitspanne eine Eindämmung der Infektionen möglich ist.

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«Wir haben nicht alles gut gemacht. Kein Land kann das von sich behaupten.»

Die Schweiz ist sicherlich nicht das einzige Land, das bei der Bekämpfung der Pandemie Fehler gemacht hat. Dennoch gibt es Länder, die von sich behaupten können, dass sie fast alles richtig gemacht haben.

In Neuseeland starben bis zum heutigen Tag 25 Menschen an Corona. Im Inselstaat mit knapp fünf Millionen Einwohnern infizierten sich lediglich 2181 Menschen und auch eine zweite Welle konnte verhindert werden. Geschafft haben das die Neuseeländerinnen und Neuseeländer vor allem dank den strengen Corona-Massnahmen.

Sophie Jackson and Monique Lee, both from Christchurch, attend New Year celebrations in Hagley Park, Christchurch, New Zealand, Friday, Jan. 1, 2021. New Zealand and its South Pacific island neighbors ...
Die Neuseeländerinnen und Neuseeländer konnten Silvester so wie immer feiern. Denn das Land hat die zweite Welle bereits erfolgreich im August bekämpft. Bild: keystone

Anfang Juni war das Land Corona-frei, die Massnahmen wurden gelockert. 100 Tage später wurden in Auckland vier neue Corona-Fälle bekannt. Darauf schickte Premierministerin Jacinda Ardern die 1,7 Millionen Einwohner Aucklands in einen zweiwöchigen Lockdown und schottete die Stadt auch vom Rest Neuseelands ab. 179 Personen infizierten sich darauf mit Corona, dann war die zweite Welle in Neuseeland besiegt.

Auch in der Inselrepublik Taiwan hat man die Bedrohung durch das Virus extrem früh erkannt. Die dortige Seuchenschutzbehörde wurde schon Ende Dezember 2019 hellhörig, als bei einem Patienten in Wuhan ein Sars-ähnliches Virus diagnostiziert wurde. Die Statistik weist für Taiwan sieben Todesfälle und 812 Infizierte aus.

Zwar handelt es sich bei beiden erwähnten Beispielen um Inselstaaten und nicht um ein Binnenland, wie es die Schweiz ist. Dennoch stimmt Parmelins Aussage nicht, wonach kein Land behaupten könne, die Pandemie nicht in den Griff gekriegt zu haben.

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«In zwei, drei Jahren wird man global Bilanz ziehen: Welche Er­klärungen gibt es für die Übersterblichkeit? Unsere Bevölkerung ist eine der ­ältesten der Welt, spielt vielleicht das eine Rolle?»

Parmelin sagt, dass die Übersterblichkeit möglicherweise mit dem hohen Durchschnittsalter der Schweiz erklärt werden könnte. Gemäss dem deutschen Statistikportal Statista ist die Schweizer Bevölkerung im Durchschnitt 42,64 Jahre alt. Obwohl die Belgierinnen und Belgier durchschnittlich jünger sind (41,7) ist deren Übersterblichkeit im November höher als in der Schweiz (siehe folgende Grafik).

Das Gleiche zeigt sich auch in Frankreich: Die Übersterblichkeit des Landes war im März höher als in der Schweiz, obwohl die Französinnen und Franzosen im Durchschnitt knapp ein Jahr jünger als die Schweizerinnen und Schweizer sind.

Die Übersterblichkeit einfach mit dem Alter der Bevölkerung zu erklären, ist deshalb zu kurz gegriffen. Zudem hat die Schweiz bei Weitem nicht die älteste Bevölkerung der Welt. Japan (Durchschnittsalter 48,4 Jahre), Italien (47,3 Jahre) und Martinique (47) führen die Statista-Liste mit viel Vorsprung auf die Schweiz an.

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166 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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Triumvir
04.01.2021 15:42registriert Dezember 2014
Richtig peinlich Herr Parmelin. Hoffentlich argumentieren und entscheiden Sie im Bundesrat mit etwas mehr Kompetenz und Fakten...leider habe ich da meine leisen Zweifel...
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Paul Badman
04.01.2021 18:15registriert November 2015
Wissenschaft besteht aus folgenden Schritten:
a) These aufstellen
b) Beweise finden
c) auf Gegenbeweise testen
d) sich der Diskussion stellen.
Politik hingegen so:
a) Behaupten
b) Behaupten
c) Behaupten
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7Gänseblümchen
04.01.2021 16:58registriert August 2020
Ich ich mit der Politik der SVP nichts anfangen kann, schon garnicht mit Parmelin oder Maurer, war ich zunächst nicht begeistert, dass Parmelin der neue Präsident ist, aber immerhin muss nun endlich einer von jenen hinstehen und den Kopf hinhalten, der im Bundesrat ständig neue Massnahmen blockiert hat und die Wirtschaft höher gewichtet Menschenleben. Mir taten Sommaruga und Berset jeweils Leid, wenn sie vor der Presse wieder fehlende neue Beschlüsse trotz hohen Fallzahlen rechtfertigen mussten, obwohl klar war, dass das Däumchendrehen nicht auf ihrem Mist gewachsen ist.
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