Die Stempeluhr, ein Relikt für Fabrikarbeiter? Mitnichten. Die Pflicht zur Arbeitszeiterfassung war nie weg, sie wurde von vielen Firmen und Arbeitsinspektoren einfach lange ignoriert. Erst als sich Gewerkschaftschef Paul Rechsteiner und Arbeitgeberpräsident Valentin Vogt unter Druck von Wirtschaftsminister Johann Schneider-Ammann auf Erleichterungen bei der Arbeitszeiterfassung einigten, kam die Erinnerung an die vernachlässigte gesetzliche Pflicht zurück.
Die von den Sozialpartnern erreichten Erleichterungen wurden von vielen Firmen aber nicht als solche angesehen. Von der Pflicht zur Arbeitszeiterfassung ausgenommen sind unter anderem Angestellte mit einem Einkommen von über 120 000 Franken – sofern ein Gesamtarbeitsvertrag vorliegt.
Die Unzufriedenheit hat zu parlamentarischen Vorstössen geführt. Ständerätin Karin Keller-Sutter (FDP/SG) verlangt, dass leitende Angestellte und Fachspezialisten ihre Arbeitszeit nicht erfassen müssen. Der Luzerner CVP-Ständerat Konrad Graber geht einen Schritt weiter. Bestimmte Wirtschaftszweige, Gruppen von Betrieben oder Arbeitnehmern sollen von einer wöchentlichen Höchstarbeitszeit befreit und dafür einem Jahresarbeitszeitmodell unterstellt werden.
Zudem wird eine Lockerung der Ruhezeit angestrebt. Derzeit arbeitet das Staatssekretariat für Wirtschaft Vorschläge zur Umsetzung der beiden Initiativen aus. Graber geht davon aus, dass die Gesetzesänderungen Ende 2018 vom Ständerat beraten werden. Für hiesige Verhältnisse ist das ein Schnellzugstempo, mit dem die «gängige Praxis legalisiert» werden soll.
Denn wer heute zweimal pro Woche um 17 Uhr den Arbeitsplatz verlässt, um seine Kinder von der Kita abzuholen und den Abend mit ihnen zu verbringen, um 22 Uhr aber nochmals E-Mails beantwortet und dann um 8.30 Uhr wieder im Büro erscheint, verletzt das Arbeitsgesetz.
Er hält die Ruhezeit von 11 Stunden nicht ein. Diese ist neben der wöchentlichen Höchstarbeitszeit von 45 Stunden der wichtigste Pfeiler des Arbeitsgesetzes. Graber legt Wert darauf, dass nicht mehr gearbeitet werden soll, aber flexibler. Die neuen Regeln würden für 10 bis 20 Prozent aller Angestellten gelten.
Die Änderung des Arbeitsgesetzes ist heikel. Die Gewerkschaften drohen bereits mit dem Referendum und reden von «Wildwest am Arbeitsplatz». Bestätigt sehen sie sich durch die neuesten Forderungen des Gewerbeverbandes. Dieser will, dass die wöchentliche Höchstarbeitszeit für alle Arbeitnehmer auf 50 Stunden erhöht wird.
Auch der Gewerbeverband will nicht, dass übers Jahr hinweg mehr gearbeitet wird. Dennoch macht das Schlagwort der 50-Stunden-Woche die Runde und sorgt für geharnischte Kommentare. Solche liest der Gewerkschaftsbund gerne. Er sieht sich in seiner Haltung durch den Bundesrat bestätigt. Dieser publizierte gestern einen Bericht zu den Auswirkungen der Digitalisierung auf den Arbeitsmarkt. Die Regierung schreibt, dass sich den Unternehmen bereits heute eine Vielzahl von Möglichkeiten biete, die Arbeits- und Ruhezeiten der eigenen Belegschaft nach den betrieblichen Bedürfnissen zeitlich flexibel zu gestalten. Die Grenzen des Arbeitsgesetzes hätten in erster Linie zum Ziel, «die (zeitliche) Belastung der Arbeitnehmer zu begrenzen und so überlange Arbeitstage, welche erwiesenermassen negative Auswirkungen auf die Gesundheit und die Leistungsfähigkeit haben können, soweit möglich zu vermeiden».
Zu den Vorstössen von Keller-Sutter und Graber wird sich der Bundesrat erst später äussern. Für Luca Cirigliano, Dossierverantwortlicher beim Gewerkschaftsbund, ist klar, dass es für den Bundesrat keinen Handlungsbedarf gebe. Er wehrt sich gegen den Vorwurf, das Arbeitsgesetz sei veraltet: «Das Arbeitsgesetz ist flexibel. Zudem erlaubt die Verordnung zum Arbeitsgesetz Ausnahmen für Branchen, wo eine Flexibilisierung betrieblich notwendig ist.» 42 Bereiche machen von diesen Sonderregelungen Gebrauch.