Grenzgänger im Tarnanzug: Warum diese Auslandschweizer freiwillig die RS machen
Wenn sich die Rekruten am Samstagmorgen im Innenhof der Kaserne in Colombier NE zum Appell aufstellen, fallen einige der jungen Männer aus der Reihe. Anders als ihre Kameraden werden sie nicht in Uniform ins Wochenende geschickt, sondern in ziviler Kleidung.
«Détachement touriste» lautet der augenzwinkernde Übername für die Rekruten. Es sind Schweizer, die im Ausland leben und freiwillig in der Schweiz Militärdienst leisten. Da sie übers Wochenende teilweise zurück ins benachbarte Ausland kehren, gilt für sie eine spezielle Uniform-Regelung.
Zu den «Touristen» in der Truppe gehören Thomas Ganière und Samuel L.*, beide 23. Ganière kommt ursprünglich aus Nyon am Genfersee, seit 2012 lebt er mit seiner Familie in Frankreich, mittlerweile nahe der Schweizer Grenze. «In meiner Familie haben alle Männer Militärdienst geleistet, auch mein Bruder», sagt er. Er wollte das auch. «Die Familie macht keinen Druck, aber ich will die Tradition fortführen. Ich will sie stolz machen», sagt er.
Ganière arbeitet heute als Kaufmann in der Schweiz, lebt aber weiterhin in Frankreich. Er sieht den Dienst in der Schweizer Armee als Chance, als «eine wichtige Etappe» im Leben. Ein Ort, an dem man – «ganz klischeehaft», meint er – Disziplin lerne, körperlich in Form komme, reifer werde. Sein Ziel: mindestens Wachtmeister werden.
Militärdienst unter anderen Vorzeichen
Wie Kamerad Samuel L. macht Thomas Ganière die RS in der Infanterie als Führungsstaffel-Soldat. Am Morgen vor dem Treffen mit CH Media stand ein Selbstverteidigungstraining an, in der Nacht biwakierten die Rekruten. Bald steht der erste Marsch in Vollmontur an, auf den sich Ganière schon freut. Er will schliesslich fit werden. Die RS als Intensiv-Workout sozusagen.
Auch Samuel L. sagt, er leiste Dienst, um seine Grenzen kennenzulernen – «und zu verschieben». Zudem sei es eine Möglichkeit, die Schweiz etwas besser kennenzulernen. Der Webentwickler ist im deutschen Bundesland Thüringen aufgewachsen, seine Mutter ist Schweizerin, sein Vater Deutscher. Heute wohnt er in der Nähe von Lörrach und pendelt für den Job nach Basel. «Ich will nicht das ganze Leben vor dem Computer verbringen, sondern zwischendurch etwas radikal anderes machen», sagt L. Da entschied sich der Doppelbürger fürs Militär in der Schweiz.
In seinem Freundeskreis löste der Entscheid Kopfschütteln aus. «In meiner Bubble ist es überhaupt nicht normal, Militärdienst zu leisten», erzählt L., der lieber nicht seinen vollen Namen in der Zeitung lesen möchte. Ein Freund habe die Bemerkung fallen gelassen, er gehe nur deshalb in der Schweiz ins Militär, weil da nicht Gefahr bestehe, eingezogen zu werden. Ganz unrecht habe er damit nicht, lässt L. durchblicken.
Interesse der Auslandschweizer steigt
Gut jede zehnte Schweizerin und jeder zehnte Schweizer lebt im Ausland. Die Ausgewanderten sind in der Schweiz in Friedenszeiten von der Dienstpflicht befreit. Die Zahl jener, die freiwillig ins Militär gehen, ist verschwindend klein. Sie nahm in den vergangenen Jahren aber zu.
2020 bis 2022 kamen jeweils rund 50 Rekruten aus dem Ausland, 2023 waren es bereits 77. 2024 meldeten sich 92 Auslandschweizer für den Dienst, 78 begannen schliesslich die RS.
Der Anteil Auslandschweizer unter den Rekruten beträgt damit deutlich unter einem Prozent. Was der Grund für das – auf tiefem Niveau – gesteigerte Interesse am Schweizer Militärdienst ist, dazu kann die Armee keine Angaben machen. Auf der Hand liegt, dass die veränderte Sicherheitslage in Europa einige Auslandschweizer mehr dazu motivieren könnte, Dienst zu leisten.
Rekruten aus Panama und La Réunion
80 Prozent der Auslandschweizerinnen in der Armee kommen wie Thomas Ganière und Samuel L. aus den Nachbarländern Frankreich, Deutschland, Italien und Österreich. Es gab aber auch schon junge Männer, die aus Sri Lanka, den USA, Panama oder La Réunion für die RS in die Schweiz kamen, wie die Armee auf Anfrage mitteilt.
Für sie ist das Militär auf der Suche nach Gastfamilien, welche die Rekruten an den Wochenenden bei sich aufnehmen. Nebst der Bereitstellung eines möblierten Zimmers gehe es auch darum, die Rekruten im Alltag zu unterstützen, zum Beispiel bei einfachen Fragen zu den Behörden oder zum Einkaufen, sagt Armeesprecher Stefan Hofer. Dafür zahlt die Armee den Gastfamilien eine Entschädigung von 400 Franken pro Monat.
Von der Aushebung direkt in die RS
Eine Besonderheit für Auslandschweizer ist auch, dass sie unter Umständen gleich nach der Aushebung die RS beginnen können – damit sie nicht zweimal in die Schweiz reisen müssen. Auch Thomas Ganière hat es so gemacht. Das ist auch der Grund, weshalb noch kein Namensschild auf dem Tenue prangt. Dieses wird erst noch geliefert.
Dafür hat Rekrut Ganière zum RS-Start etwas anderes erhalten: ein Paket, um ihm den Start in der Schweiz zu erleichtern. Darin fanden sich beispielsweise Schoggi, Popcorn – und wichtige Adressen, an die er sich als Auslandschweizer bei Fragen wenden kann.
Sein Kamerad Samuel L. könnte auch ein Wörterbuch gebrauchen. Er hat in der Schule in Deutschland zwar Französisch gelernt, doch viel ist über die Jahre nicht hängengeblieben. «Bei der Aushebung hiess es, wenn ich kein Französisch verstehe, sei das kein Problem», sagt er. Dann wurde er in die Infanterieschule 2 nach Colombier am Neuenburgersee eingeteilt. «Die erste Woche war sehr hart», sagt er. Mittlerweile komme er aber gut zurecht.
Die beiden Auslandschweizer sind sich einig, zum RS-Beginn an ihre Grenzen gekommen zu sein. Doch inzwischen, nach einem Monat in der Kaserne, haben sie sich etwas eingelebt. So wie alle Rekruten – egal, ob von nah oder fern.
*Name der Redaktion bekannt
(aargauerzeitung.ch)