Migros und Coop sind stolz auf ihre genossenschaftlichen Wurzeln. Hier sind keine profitgetriebenen Riesen am Werk, sondern bürgernahe Detailhändler, bei denen die Kundschaft mitbestimmen kann. Die Migros vermarktete diese Erzählung nach der Alkoholabstimmung meisterhaft: «Stossen wir an auf die Demokratie!» Etwas nüchterner, aber nicht weniger überzeugt hält es Coop: «Wir gehören unseren Mitgliedern, also den Kundinnen und Kunden. Als Genossenschaft streben wir keine Gewinnmaximierung an.»
Ob die rund 2.5 Millionen Coop-Genossenschafter ausreichend mitreden können, ist eine Frage, mit der sich nächste Woche das Zivilgericht Basel-Stadt befassen muss. Eine erste Verhandlung ist auf den Mittwoch, 14. Dezember, angesetzt. Vor Gericht steht Coop, weil der Genossenschafter Chris Zumbrunn Klage eingereicht hat. Der 54-Jährige wollte sich im Herbst 2020 als Teil einer Gruppe von Genossenschaftern für die Wahl in den Coop-Regionalrat zur Verfügung stellen. Er scheiterte aber am «Wahlmodus, den der Verwaltungsrat im letzten Moment verschärft hatte», so Zumbrunn. Der Regionalrat ist im Coop-Universum das oberste Gremium - zumindest theoretisch. Die Regionalräte bestellen über die Delegiertenversammlung den Verwaltungsrat, der wiederum die operative Leitung bestimmt.
Das aktuelle Reglement für die Wahl der Regionalräte sieht vor, dass ein Genossenschafter einen Wahlvorschlag einreichen kann, wenn er innert 15 Tagen die Unterschriften von sechs Prozent der Genossenschafter auftreibt. Das sind für die ganze Schweiz 150'000 Unterschriften. Im Vergleich zu einem Referendum sei diese Sammlung über 30-mal schwieriger, sagt Zumbrunn. «Aufgrund der hohen Hürden ist es im Coop-Regionalrat faktisch noch nie zu wirklichen Wahlen gekommen.» Denn geht innert der Frist kein gültiger Wahlvorschlag ein, erfolgt gemäss Statuten eine «stille» Wahl. Die Folge: Die amtierenden Regionalräte hieven alle vier Jahre mangels Konkurrenz ihre eigenen Kandidaten ins Amt.
In der Klageschrift, die der «Schweiz am Wochenende» vorliegt, sieht Zumbrunn die Rechte der Genossenschafter damit «als auf ein derart prekäres Minimum beschränkt, dass sie als faktisch inexistent zu bezeichnen sind». Coop unterbinde «die genossenschaftlichen Mitbestimmungsrechte», sagt er. Zumbrunn klagt deshalb darauf, die Wahlreglemente für widerrechtlich und damit die darauf basierenden Wahlen für nichtig zu erklären.
Um den Frust des Genossenschafters zu verstehen, ist ein Blick auf die Änderungen des Wahlreglements nötig, mit denen der damalige Coop-Verwaltungsrat um Hansueli Loosli und Doris Leuthard die Hürden am 23. September 2020 erhöht hat. Zuvor mussten die Genossenschafter, die sich oder andere zur Wahl aufstellen wollten, die Unterschriften von «nur» zwei (statt jetzt sechs) Prozent der Mitglieder in einem Wahlkreis sammeln und hatten dafür immerhin 30 Tage Zeit. Der Verwaltungsrat kürzte nicht nur die Fristen und setzte die Zahl der Unterschriften herauf. Neu müssen Genossenschafter zusätzlich ihre Abo-Nummer der «Coop-Zeitung» angeben - für Zumbrunn eine weitere Schikane, um Kandidaturen und somit Wahlen zu verunmöglichen.
Seiner Ansicht nach widersprechen die Wahlregeln im alten wie im neuen Reglement dem Genossenschaftsrecht. «Die Hürden sollten nur so hoch sein, dass einer Überflutung mit missbräuchlichen Kandidaturen vorgebeugt wird. Die demokratischen Partizipationsrechte der Genossenschafter dürfen aber nicht verhindert werden.» Da es noch überhaupt nie auch nur zu einer Kandidatur gekommen sei, seien die Hürden offensichtlich viel zu hoch, sagt er. Dabei stützt sich seine Anwältin unter anderem auf das Obligationenrecht. Dort steht, dass jeder Genossenschafter ein Mitbestimmungs- und Wahlrecht in seiner Genossenschaft hat und sich in Gremien wählen lassen darf.
Die Änderung des Wahlreglements erfolgte überstürzt - und zwar zu dem Zeitpunkt, als Coop von den Plänen der Vereins Detailwandel Wind bekam. Dieser hatte im Herbst 2020 vor, den Coop-Regionalrat mit eigenen Kandidaturen zu «demokratisieren», und stand kurz vor einer grossen Wahlkampagne. Auch wenn die Chancen für Sprengkandidaturen doch eher klein waren, sah sich Coop offensichtlich durch die Pläne des Vereins derart bedroht, dass der Detailhändler kurzerhand das Wahlreglement verschärfte.
Doch dieses Mal ging die Wahl nicht wie üblich geräuschlos über die Bühne. Als das Onlinemagazin «Republik» über den Trick des Verwaltungsrats berichtete, schlug Coop eine Welle der Empörung entgegen. In einem offenen Brief von Detailwandel forderten 15'000 Menschen Coop auf, die «Scheinwahl» zu kippen und einen «demokratischen Wandel einzuläuten». Das Parlament nahm den Ball auf und stiess eine Revision des Genossenschaftsrechts an. Der Bundesrat muss dazu nun einen Bericht vorlegen.
Nächste Woche geht es am Basler Zivilgericht deshalb nicht nur um Chris Zumbrunn, der die Mitbestimmungsrechte der Genossenschafter beschnitten sieht. Auch die Politik wird bei einer allfälligen Überarbeitung des Genossenschaftsrechts die Auslegung der Basler Richter genau studieren. Ist ein Reglement mit diesen Wahlhürden für eine Genossenschaft zulässig? Welcher Reformbedarf ergibt sich daraus? SVP-Nationalrat Lars Guggisberg, der die Auslegeordnung verlangt hat, will vom Bundesrat explizit eine Antwort auf die Frage, «ob und wie die Partizipationsrechte von Genossenschaftsmitgliedern gleichwertig ausgestaltet werden können».
Chris Zumbrunn sieht sich als Vorkämpfer für die Rechte aller Genossenschafterinnen und Genossenschafter in der Schweiz. Er ist selbst in mehreren Genossenschaften aktiv und Mitgründer einer solchen im bernjurassischen Mont-Soleil, genannt «La Décentrale». Dort arbeitet er mit seinen Mitstreitern an der Lebensform «soziale Permakultur», alternativen Geldsystemen und ganz generell «einer selbstorganisierten Zivilgesellschaft». Wenn sich nächste Woche Zumbrunn und die Coop-Anwälte gegenüberstehen, prallen dabei Weltanschauungen aufeinander. Hier einer der zwei Detailhandelsriesen der Schweiz mit einem Umsatz von 31.9 Milliarden Franken. Dort der Genossenschafter, der sich für das «basisdemokratische Genossenschaftsrecht» einsetzt.
Auf Anfrage will sich Coop nicht «zum laufenden Verfahren» und zur Verteidigungslinie äussern. Die kurzfristige Anpassung des Wahlreglements hatte der Händler in der Vergangenheit jeweils damit gerechtfertigt, dass es durch elektronische Hilfsmittel heute viel einfacher sei, Unterschriften zu sammeln. Zudem habe sich die Zahl der Genossenschaftsmitglieder innert 20 Jahren fast verdoppelt. Vor Gericht werden die Coop-Anwälte insbesondere in diesem letzten Punkt noch überzeugend darlegen müssen, warum der Mitgliederzuwachs eine höhere relative Hürde nötig machte. Schliesslich sorgte gerade die bestehende 2-Prozent-Schwelle dafür, dass es bei mehr Mitgliedern auch mehr Unterschriften brauchte. (bzbasel.ch)
Und ich bin der Osterhase.