Die Terroranschläge trafen Belgien nicht unvorbereitet. Die Terroralarmstufe war erhöht seit der Verhaftung von Salah Abdeslam am vergangenen Freitag. Die Behörden kannten die Gefahr eines Anschlages und warnten entsprechend. Seit den Attentaten in Paris, die auch von Brüssel aus geplant wurden, wappnete man sich verstärkt gegen die islamistischen Terroristen. Zeitweise stand ganz Brüssel still. Und konnte die beiden Anschläge schliesslich doch nicht verhindern.
Schnell wurde der Vorwurf laut, die Sicherheitsbehörden hätten versagt. Die Ursachen dafür waren ebenso rasch gefunden: Zu viele Behörden und Institutionen, die Kompetenzen sind auf zu viele Ebenen verteilt. Allein in Brüssel mit seinen 1,2 Millionen Einwohnern gibt es sechs Polizeidistrikte, die 19 Bürgermeistern unterstehen. Da sind Kommunikationspannen vorprogrammiert, so die Vermutung. Und keiner fühlt sich für Probleme zuständig.
Dieser Wirrwarr ist ein Produkt des belgischen Föderalismus. Das Land zerfällt in zwei grosse Teile, das französischsprachige Wallonien im Süden und das flämischsprachige Flandern im Norden. Daneben gibt es auch ein kleineres Gebiet, in dem Deutsch gesprochen wird. Eine Situation nicht unähnlich derjenigen in der Schweiz.
Doch im Unterschied zur Schweiz stiften in Belgien die politischen Strukturen keinen Ausgleich zwischen den Regionen. Vielmehr manifestieren sich in ihnen die lokalen Partikulärinteressen. Es fehlen nationale Parteien, die wallonische Bürger ebenso vertreten würden wie flämische. Und es fehlt am Miteinander der belgischen Politiker. Die politischen Grabenkämpfe haben in den letzten Jahren den Zentralstaat geschwächt und erst zur Ausbildung der föderalistischen Strukturen geführt.
Belgien ist erst seit 1993 ein Bundesstaat mit drei Regionalparlamenten. Die Schweiz bezeichnet sich gerne als Willensnation. In Belgien fehlt der Wille zur Zusammenarbeit. Jede Sprachgemeinschaft schickt ihre Vertreter in die Regierung. Total gibt es deshalb 17 Ministerien, die teils den Regionen zugeordnet sind.
Belgien ist berüchtigt für sein Labyrinth an Institutionen, Zuständigkeiten sind oft ungeregelt. Diese Zersplitterung der Kompetenzen wirkt sich auch auf die Sicherheitsbehörden aus.
Das belgische Terrorproblem besteht nicht erst seit kurzem. In keinem anderen europäischen Land geraten proportional zur Bevölkerung so viele junge Leute in die Fänge des Dschihads. Laut dem belgischen Innenministerium sind rund 440 Personen nach Syrien gereist. Viele sind zurückgekehrt, auch nach Brüssel.
In den letzten zwei Jahren sind mindestens sieben weitere Attentate in Belgien verübt oder von dort aus geplant worden. So hatte ein Attentäter, der im Januar 2015 einen Anschlag auf einen jüdischen Supermarkt in Paris verübte, sich Waffen und Munition in Brüssel beschafft.
Im Februar 2015 liess die belgische Polizei ein ganzes Netzwerk von aus Syrien zurückgekehrten Terroristen auffliegen. Aber einige gingen ihnen durch die Lappen. Darunter auch Abdelhamid Abaaoud, der als Drahtzieher der Pariser Attentate gilt. Schon früher hielten sich islamistische Terroristen in Belgien auf. Bereits nach den Anschlägen vom 11. September 2001 wurde in einem Brüsseler Vorort ein Terrorist gefasst, der einen Angriff auf einen NATO-Stützpunkt geplant hatte.
Die Hauptstadt ist eigentlich ein multikulturelles Dorf. Die Viertel liegen nahe beieinander. Doch statt eine Symbiose zu bilden, entpuppen sie sich als ethnisch abgetrennte Einzelteile. Da ist das Europaviertel, in dem sich die europäischen Beamten tummeln. Dresscode: weisses Hemd, blaue Krawatte und massgeschneiderter Anzug. Nach Feierabend geht es in den umliegenden Kneipen erst hoch zu und her, dann entleert sich die Gegend rasch.
Nur eine Strasse hinter dem Europäischen Parlament beginnt das kongolesische Quartier von Port de Namur. Das soziale Leben spielt sich hier nicht in Kneipen, sondern in Coiffure-Salons und Läden ab, in denen allerlei exotisches Gemüse und Früchte feilgeboten werden. Die Brüsseler Innenstadt mit den Wahrzeichen Grande Place und Manneken Pis wiederum befindet sich ganz in den Händen der Touristen. Von der Grande Place aus führt ein zehnminütiger Marsch über den grossen Kanal nach Molenbeek.
Der Stadtteil, der seit den Pariser Anschlägen im medialen Rampenlicht steht, geniesst bei Belgiern schon seit je einen zweifelhaften Ruf. Knapp 100'000 Einwohner, geschätzte 39 Prozent muslimischen Glaubens, leben hier. In gewissen Strassenzügen wähnt sich der Besucher in Marrakesch. Geschäfte mit islamischer Mode wechseln sich ab mit Läden, die keinen Alkohol, dafür Fleisch anbieten, das den religiösen Vorschriften entsprechend «halal» zu sein hat.
Die Arbeitslosenquote liegt bei über 30 Prozent. Während Jahren zog sich der Staat immer weiter zurück. Gewisse Kreise radikalisierten sich. Geschichten von selbst ernannten muslimischen Sittenwächtern machten die Runde. Der ideale Nährboden für den Terror. Erst jüngst wurden sich die Stadtbehörden des Problems bewusst: Sie liessen entlang des Kanals schicke Lofts, eine Polizeistation und grosszügige Pärke errichten.
Zu spät: Längst haben sich gut vernetzte Islamisten im Quartier eingenistet – mit den heute bekannten Folgen.
Gewiss, die Schweiz hat keine so grosse Stadt, in der sich Gettos bilden wie in Molenbeek. Hierzulande ist keine Gegend bekannt, in der ausländische Clans den Tarif durchgeben. Die Schweiz hat bei der Integration vieles richtig gemacht. Allen voran die Schulen betreiben einen immensen Aufwand, um Einwanderer rasch zu integrieren. Sie sorgen dafür, dass Migranten einer Landessprache mächtig sind.
Der wichtigste Integrationsfaktor aber bleibt der Arbeitsmarkt: Das duale Berufsbildungssystem erweist sich als Vorteil, um Migranten rasch in den Arbeitsmarkt zu integrieren. Es erweist sich als so durchlässig, dass bei entsprechenden Bemühungen jeder eine Chance auf einen Job bekommt.
Sich auf diesen Erfolgen auszuruhen, ist aber keine Option. Integration bleibt ein fortwährender Prozess. Hierzulande werden geringqualifizierte Arbeitsstellen ins Ausland verlagert oder fallen der Automatisierung zum Opfer, die Mietpreise in den Zentren steigen. Das alles ist das Gift für die Integration der Neuankommenden, die in der Schweiz ihre Chance suchen. (nordwestschweiz)