Wenn wir durch Stockholm oder Strassburg spazieren, verwenden wir früher oder später unser Smartphone. Ebenso, wenn wir in Riga ein Restaurant buchen, in Hanoi ein Hotel oder in Montreal ein Mietauto. Fotograf Ben Buckland hatte von alldem genug. Von der Art und Weise, wie auch er auf Reisen unterwegs war. Von der Vorhersehbarkeit im Zeitalter des Handys.
Im vergangenen Sommer setzte Ben – aus Tasmanien stammend, in der Schweiz wohnhaft – ein Projekt in die Tat um. Ohne Handy und Karten wollte er quer durch die Schweiz wandern, vom Genfersee bis zum Bodensee. Aus seiner Reise entstand eine wunderbare Reportage, die diese Woche in der «New York Times» erschien.
Sein einziges, trotz allen Freiheitsstrebens unabdingbares Hilfsmittel: Skizzen und Karten, die ihm Einheimische von Hand zeichneten, um ihm grob den Weg durch die Schweizer Natur zu weisen.
Mit dieser Art des Fortbewegens wollte Ben vergangene Gefühle wieder erleben, mit Menschen ins Gespräch kommen, Papierkarten in der Hand, im Leben innehalten. Oder wie es der Fotograf selbst formuliert:
Die Reise begann in Montreux beim Genfersee. Dort folgte schon bald die erste Erkenntnis: Ben hätte, wenn überhaupt, statt Google Maps lieber eine Wetter-App zur Verfügung. Den Weg mal nicht zu finden: in der trotz allem kleinräumigen Schweiz kein allzu grosses Problem. Stundenlang im Regen wandern hingegen: ungemütlich.
Ben absolvierte durchaus akzeptable Distanzen, das waren pro Tag auch mal 40 Kilometer. Am zweiten Tag traf er in einem Café beim Château d'Oex Charlotte an, eine pensionierte Lehrerin.
Sie ass ein Glacé zum Zmittag und sagte zu Ben: «Ich habe 60 Jahre lang auf mein Gewicht geachtet und jetzt kümmert es mich nicht mehr.» Charlotte zeichnete Ben eine Karte und trug die exakte Anzahl an Höhenmetern ein, die Ben auf- und absteigen muss, um das nächste Tal zu erreichen. Sie ist einst über diese Pässe gerannt, die Daten sind ihr geblieben.
Liest man die Reportage in der «New York Times», merkt man, dass Ben das erhielt, was er sich erhofft hatte. Er spürt die Menschen.
Generell fiel Ben auf, dass die Karten, die die Menschen ihm zeichneten, oft subjektiven Charakter hatten. Sie zeigten, wem oder was die Leute ihre Aufmerksamkeit schenkten. Zwei Landwirte hatten ihm als Orientierung einen Stall gezeichnet. Die Anzahl Türen stimmte mit dem Original exakt überein.
Eine Bauernfamilie lud ihn spontan zum Frühstück ein, es gab Kaffee, Brot und Konfitüre. Obwohl viel zu tun, zeichnete ihm Bauer Rudi sorgfältig eine Karte, inklusive der Himmelsrichtungen. Er sagte:
Ben traf nicht nur Einheimische, er kam auch mit anderen Reisenden in Kontakt und erfuhr deren Geschichten. Einmal griffen die Norwegerin Lilian und die Australierin Dora zu Stift und Papier und versuchten, Ben den Weg zu weisen. Die beiden Frauen hatten sich Jahre nicht mehr gesehen. Nun waren sie zusammen in der Schweiz, um zu wandern. Zu Ben sagten sie: «Du dachtest, du bittest uns um etwas, aber in Wirklichkeit warst du es, der uns ein Geschenk gemacht hat.»
Ben lief viele der bekannten Schweizer Sehenswürdigkeiten und Naturdenkmäler ab. Er wanderte an der Eigernordwand vorbei, konnte die Trümmelbachfälle bewundern, tags zuvor schlief er im Gras beim Oeschinensee.
Nebst Routenvorschlägen kam Ben auch in den Genuss von Gastrotipps. Susana, eine Portugiesin, hatte in eine einheimische Familie eingeheiratet und betrieb in der Nähe von Grindelwald eine Hütte. Auf ihrer Karte zeichnete sie einige weitere Gasthäuser ein und notierte die Spezialitäten, die man sich dort gönnen soll.
Vom erwähnten Bauer Rudi erhielt er einige Tage zuvor keine Gastrotipps. Da lief die ganze Sache pragmatischer ab. Rudi drückte Ben ein Stück Käse in die Hand, das er später – aufgrund eines Gewitters patschnass – in einer Scheune zu sich nahm.
Nachts im Zelt las Ben aus Homers Epos Odyssee. Früher waren Reisende wie er immer auf das Wohlwollen von Fremden angewiesen.
Ben ist präsent wie selten zuvor, er lebt im Hier und Jetzt. Arbeitsbeginn um 8 Uhr, der Zug nach Hause fährt täglich um 17.36, die Lieblingspizza beim Lieblingsitaliener kostet 26.50 Franken. Die erwähnte Vorhersehbarkeit des Alltags – Fluch und Segen zugleich – ist auf seiner Wanderung ganz weit weg.
Gleichzeitig hatte Ben unterwegs viel Zeit, um nachzudenken. Als er im Kanton Schwyz unterwegs war, traf er kaum Menschen an. Ausser den Käsern Peter und Andrea, die ihm eine Karte zeichneten. Zu seiner Zeit im Kanton Schwyz sagt er:
Ben gab auf seiner Tour nicht klein bei, auch wenn er auf Unverständnis stiess. Als er sich nach einer Nacht in einer Wiese beim Klöntalersee im Gasthaus Richisau ein Frühstück genehmigte, machte ein Ehepaar grosse Augen. Es zeichnete ihm auf der Karte einen Bus ein und betonte: «Er fährt immer pünktlich.» Im Regen möchte ja kein Mensch wandern. Ben schon.
Der Fotograf, er illustrierte seine Reportage mit schönen Bildern, kam zum Schluss, dass die Schweiz für diese Art des Reisens perfekt ist. Eine solche Wanderung ohne Online-Karte in Bens Heimat Tasmanien zu absolvieren, wäre keine gute Idee gewesen, weil man sich an diesen Orten wirklich verlaufen kann. Auf die gelben Wanderpfeile der Schweiz war hingegen immer Verlass.
Ben verlinkt den amerikanischen Lesern der «New York Times» einen Artikel der Bundesverfassung, der vorgibt, dass Fuss- und Wanderwege unterhalten werden müssen.
Die letzten Kilometer bis zum Bodensee waren garstig. Es regnete erneut heftig. Irgendwann schneite es «seitwärts», wie er schreibt. An einem Punkt war es dermassen kalt, dass Ben bergab zu rennen begann, um sich aufzuwärmen.
Basejumper Jon half ihm mit einer Skizze, den Kanton Glarus zu durchqueren, die letzte Karte stammte von Chris. Einem Amerikaner, der seit Jahrzehnten in der Schweiz lebt. Chris zeichnete sehr detailliert, er kennt die Region in- und auswendig.
Als Ben am Bodensee ankam, sprang er trotz aller Kälte rein. In 12 Tagen war er 420 Kilometer gewandert, gross verlaufen hatte er sich nie.
Am Bahnhof las er auf dem angebrachten Fahrplan die Abfahrtszeiten ab. Der Zug war pünktlich und Ben dachte sich: «Manchmal ist Vorhersehbarkeit ein Segen.»