Lisa sitzt in ihrem Kinderzimmer. Es ist halb 12 nachts. Sie kann nicht mehr. Es geht nicht mehr. Sie will nicht mehr. Aber: Sie muss noch mehr. Stundenlang hat Lisa gelernt, doch noch immer fühlt sie sich zu wenig auf die morgige Prüfung vorbereitet. Und wenn sie es verkackt, was dann?
Die Kindheit beschreiben wir gerne als glückliche Zeit. Als die Zeit, wo wir nur wenige Verpflichtungen hatten. Keine bis kleine Sorgen. Wer hat sich diese Zeit nicht schon einmal zurück gewünscht?
Die neuesten Studien zeigen aber, dass wir froh sein können, dass dieser Wunsch nicht Erfüllung geht. Offenbar ist die Kindheit nicht mehr das, was sie einmal war. Statt eines Schlaraffenlandes der Freiheit und des Spasses ist sie eine ständige Ausbildungsstätte. Mit vollem Terminkalender. Ständigem Leistungsdruck. Kindheit kann krank machen.
2002 litt jedes fünfte 11-jährige Kind mehrmals pro Woche unter Schlafproblemen, heute ist es beinahe jedes dritte. Das ist noch nicht alles. Laut der Studie der Weltgesundheitsorganisation (WHO) haben 15 Prozent der Schweizer Kinder mehrmals pro Woche ein Gefühl der Niedergeschlagenheit. Jedes Zehnte spricht von Bauchweh oder Kopfweh.
Noch immer sitzt Lisa vor ihren Büchern. Weiss nicht mehr wie weiter. Lernen kann sie nicht mehr. Schlafen schon gar nicht. Sie greift zum Telefon. Wählt die 147. Lisa ist klug. Sie weiss, hier können sie ihr helfen. Hofft sie.
Die Hotline der Pro Juventute stellt in den letzten sieben Jahren fest, dass immer mehr Kinder und Jugendliche wegen persönlichen Problemen Hilfe suchen. Am häufigsten sind dabei Suizidgedanken. Danach Krisen. Dann Angst. Und depressive Stimmungen.
Pro Juventute will nun handeln. Sie will mithelfen, den Druck und den Stress dem Kinder und Jugendliche heutzutage ausgesetzt sind, zu reduzieren. «Mehr freie Zeit für Kinder», fordert ihre Direktorin Katja Wiesendanger. Eine nationale Kampagne soll Eltern dazu bringen, ihre Kinder weniger unter Druck zu setzen. Ihnen ein besseres Vorbild zu sein.
In einem weiteren Schritt überlegt sich Pro Juventute, ob sie eine Gesetzesänderung anstreben will. So soll es Lehrern verboten werden, über das Wochenende Hausaufgaben aufzugeben. In einigen Kanton gibt es diese Regelung bereits. Wie im Kanton Zürich.
Es klingelt. Beatrix Wagner nimmt das Telefon ab. Es ist Lisa, die es wirklich gibt. Nur heisst sie nicht so. Die 16-jährige erzählt ihr, dass sie doch noch lernen muss. Nicht schlafen kann. Und erzählt aus ihrem Leben: Sie besuchte das Gymnasium, begann jetzt aber eine Lehre. Erhoffte sich davon weniger Druck, weniger Stress. Denn ihr Psychiater hat bei ihr ein Burnout diagnostiziert.
«Da musste ich schon leer schlucken», sagt Beatrix Wagner, als sie von diesem Fall erzählt. Seit mehreren Jahren ist Wagner Mitglied des Beratungsteam der Pro Juventute. Sie weiss: «Burnout ist im Kinderzimmer angekommen.»
Auch Kinder- und Jugendpsychologe Urs Kiener nimmt das Wort Burnout in den Mund. Er schätzt, dass 3 bis 4 Prozent der Kinder und Jugendlichen die typischen Erschöpfungssymptome aufweisen. Die Gründe seien vielfältig. Ausmachen kann man aber die Mitschuldigen:
Beatrix Wagner überzeugt Lisa die Bücher jetzt wegzulegen. Sie habe sich gut für die Prüfung vorbereitet. Sie brauche auch Schlaf. Die beiden machen gemeinsam Atemübungen.
«Leider gibt es nicht den einen Tipp, der den Stress und Druck auflöst», stellt Wagner fest. Es sei aber bereits ein gutes Zeichen, wenn die Jugendlichen auf der Hotline anrufen. «Dann haben sie schon einmal erkannt, dass sie ein Problem haben. Erst dann kann man auch etwas dagegen unternehmen.»
Pro Juventute bietet auch eine Hotline für Eltern. Hier ist es der umgekehrte Fall. Hier rufen Eltern an, weil sie wissen möchten, wie sie ihre Kinder zu grösserem Lerneifer motivieren können. Sie wollen nur das Beste aus ihnen herausholen.
Lisa legt den Telefonhörer auf. Wie es weiter geht, wissen wir nicht. Hoffentlich kann sie schlafen.