«Wer von euch Beamten würde nach 25 Jahren gleichen Lohnes eine Gehaltskürzung akzeptieren?», stand auf dem Plakat eines Physiotherapeuten, der zusammen mit mehreren Tausend Menschen im letzten Monat auf dem Bundesplatz demonstrierte. Der Grossaufmarsch galt dem Bundesamt für Gesundheit (BAG) unter der Führung des abtretenden Bundespräsidenten Alain Berset. Die Behörde hat mit einem geplanten Tarifeingriff – in den Augen der Betroffenen kommt dieser einer Lohnkürzung gleich – einen grossen Streit mit den Physiotherapeuten angezettelt.
Dazu muss man wissen: Physiotherapeuten arbeiten seit 1997 mit dem gleichen Tarifmodell – nur 2016 gab es eine Anpassung. Höhere Anforderungen an die Ausbildung, neue Behandlungsmöglichkeiten und Organisationskonzepte wie «ambulant vor stationär», gestiegene Mieten, ja selbst die allgemeine Teuerung sind darin ungenügend abgebildet. Der Verband Physioswiss spricht von einer «signifikanten Unterfinanzierung» der Branche.
Diese Situation könnte sich verschärfen. Ab 2025 soll ein neues Tarifsystem gelten. Der Bundesrat hat die Vorschläge dazu im Spätsommer in die Vernehmlassung geschickt. Er erhofft sich von der Verordnungsänderung eine kostendämpfende Wirkung und mehr Transparenz bei den Abrechnungen.
Heute dauert eine Physiotherapiesitzung meist 30 Minuten – das ist aber nicht geregelt. Der Bundesrat will dies mit seinem Tarifeingriff nun nachholen. Er schlägt zwei Varianten vor. In Variante eins wird eine Mindestsitzungsdauer für allgemeine und aufwendige Physiotherapie von 30 Minuten beziehungsweise 45 Minuten eingeführt. Vor allem soll eine Kurzsitzung von 20 Minuten geschaffen werden, wobei maximal 5 Minuten für die Wechselzeit, die Konsultation und das Führen des Patientendossiers aufgewendet werden dürfen.
In Variante zwei würde eine Grundpauschale mit einer Sitzungszeit von 20 Minuten eingeführt. Dauert die Sitzung länger, muss dies begründet werden. Dafür gibt es eine neue Tarifposition für jeweils weitere 5 Minuten Behandlung.
Physioswiss lehnt beide Vorschläge ab, weil er eine Verschlechterung der Einkommenssituation befürchtet. In 15 Minuten sei keine zweckmässige Behandlung möglich. Der Verband macht auf verschiedenen Kanälen mobil gegen den staatlichen Tarifeingriff. Mit politischen Vorstössen, einer Kundgebung auf dem Bundesplatz und einer Petition mit knapp 300'000 Unterschriften. Und nun erhöhen die Physiotherapeuten den Druck weiter: Der Verband hat gegen das BAG eine Aufsichtsbeschwerde eingereicht. Sie liegt dieser Redaktion vor.
Der Verband der Physiotherapeuten fährt schweres Geschütz auf. Er fordert, dass ein Aufsichtsverfahren gegen das BAG eröffnet wird, um die Missstände zu untersuchen. Aufgeführt werden drei Punkte.
Erstens geht es um die Frage, ob der Tarifeingriff des Bundes überhaupt angebracht ist. Der Bund hat nur eine subsidiäre Kompetenz. Sprich, er kann nur eingreifen, wenn sich die beiden Tarifpartner – in diesem Fall Physioswiss und die Krankenversicherer – nicht einigen. Die beiden Tarifpartner weisen sich gegenseitig die Schuld zu, dass bislang keine Einigung für ein neues Tarifmodell zustande gekommen ist.
Physioswiss wirft nun aber auch dem BAG ein Fehlverhalten vor. Die Krankenversicherer seien gesetzlich zu Tarifverhandlungen verpflichtet. Weil das BAG den Versicherern stets signalisiert habe, dass es bei einer behördlichen Anordnung deren Anliegen aufnehmen würde, hätten die Versicherer gar nie einen Anreiz für Tarifverhandlungen gehabt. Das BAG sei der Pflicht nicht nachgekommen, die Versicherer auf deren gesetzliche Verhandlungspflicht hinzuweisen. Stattdessen belohne nun das BAG die Blockade der Versicherer.
Zweitens moniert der Verband, dass dem Bund die Gesetzesgrundlage fehle für die Einführung einer tarifarischen Zeitkomponente. Dieser grundlegende Wechsel des Tarifstrukturmodells liege in der Kompetenz der Tarifpartner.
Drittens verstosse die Vernehmlassungsvorlage gegen die Gebote der betriebswirtschaftlichen Bemessung von Tarifen. Physioswiss kritisiert, dass sich die Vorschläge auf das Tarifmodell von 1997 stützen, welches wiederum auf Kosten- und Leistungserhebungen aus dem Jahr 1994 basiert. Dabei habe der Verband neue Daten erhoben, «die im Rahmen des bundesrätlichen Tarifeingriffs trotz behördlicher Kenntnis davon absichtlich unberücksichtigt geblieben ist».
Mit dieser Aufsichtsbeschwerde arbeitet Physioswiss daraufhin, dass der Bundesrat von seinen Vorschlägen wieder Abschied nimmt. Es wird eine der ersten kniffligen Fragen sein, mit der sich die neue Gesundheitsministerin Elisabeth Baume-Schneider auseinandersetzen muss. (aargauerzeitung.ch)