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Berset ist nicht der erste Bundesrat, der die Schweiz ins Abseits redet

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Berset wie Delamuraz: Wenn Bundesräte die Schweiz ins Abseits reden

Alain Berset wäre nicht der erste Bundesrat, der mit einer deplatzierten Analogie das Image der Schweiz beschädigt. Jean-Pascal Delamuraz hatte sich mit einem Auschwitz-Vergleich verrannt.
15.03.2023, 14:1717.03.2023, 00:04
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Er hat es nicht so gemeint. Einen «Kriegsrausch» in gewissen Kreisen hatte Bundespräsident Alain Berset in Interviews mit «Le Temps» und der «NZZ am Sonntag» diagnostiziert. Es war seine Reaktion auf die immer drängenderen Forderungen im Aus- und Inland, die Schweiz solle die Weitergabe von Waffen und Munition durch Drittstaaten an die Ukraine zulassen.

Die Reaktionen auf diese Aussage waren heftig. Selbst aus der SP gab es scharfe Kritik. Applaus erhielt Berset einzig von der SVP und den «Friedensfreunden», die am Samstag auf dem Bundesplatz demonstriert hatten. Das gab Berset offenbar so zu denken, dass er am Dienstag dem «Tages-Anzeiger» kurzfristig ein weiteres Interview gab.

Darin anerkannte der Bundespräsident das Recht der Ukraine auf Selbstverteidigung und versuchte den Eindruck zu zerstreuen, sie müsse sofort mit Russland verhandeln: «Die Bedingungen dafür sind nicht da.» Vom Begriff «Kriegsrausch» distanzierte er sich, zumindest halbherzig: «Die Reaktionen haben mir gezeigt, dass das nicht die richtige Wortwahl war.»

Man beachte die Formulierung: Alain Berset hält offenbar nur den Begriff für falsch. Seine Diagnose aber betrachtet er nach wie vor als korrekt, wie andere Aussagen im Interview zeigen. Dabei befindet er sich in doppelter Hinsicht auf dem Holzweg.

Vergangenheit

(1938643) 1.WK. Ostfront Weihnachten im Schžtzengraben / Foto 1914 Geschichte / Erster Weltkrieg / Ostfront. / Weihnachtsfeier in einem deutschen Schžtzengraben bei Darkehmen (Mauren Ostpreu?en). Foto ...
Deutsche Soldaten feiern 1914 Weihnachten an der Ostfront. Entgegen dem Klischee war die Euphorie zu Beginn des Krieges überschaubar.Bild: picture alliance / akg images

In der «NZZ am Sonntag» fühlte sich Alain Berset an «das Klima zu Beginn des Ersten Weltkriegs» erinnert. Damals seien viele Leute von der Vorstellung «begeistert» gewesen, die vorhandenen Spannungen und Frustrationen könnten sich nur in einem Krieg entladen. Damit aber kolportierte der Kulturminister mehr das Klischee als die Realität.

Historiker wie der Australier Christopher Clark, Verfasser des gefeierten Meisterwerks «Die Schlafwandler», haben längst nachgewiesen, dass die angebliche Kriegseuphorie von 1914 ein Produkt der Propaganda war. «Vereinzelt gab es Bekundungen chauvinistischer Begeisterung für den bevorstehenden Kampf, aber das waren Ausnahmen», schrieb Clark.

Auf die meisten Menschen und an den meisten Orten habe die Nachricht von der Mobilmachung wie ein «tiefer Schock» gewirkt. Selbst die Mächtigen waren verunsichert. Der deutsche Kaiser Wilhelm II., der Hauptschuldige an der Massenschlächterei, schwankte bis zuletzt zwischen der Entschlossenheit zum Krieg und der Hoffnung, er lasse sich vermeiden.

Gegenwart

President Joe Biden, right, and Ukrainian President Volodymyr Zelenskyy talk during an unannounced visit in Kyiv, Ukraine, Monday, Feb. 20, 2023. (Ukrainian Presidential Press Office via AP)
Joe Biden und Wolodymyr Selenskyj in Kiew: Die USA helfen der Ukraine, aber sie liefern längst nicht alles.Bild: keystone

Mit Blick auf den Ukraine-Krieg wirkt der angebliche «Kriegsrausch» noch irritierender. Einen solchen findet man allenfalls im Kreml und bei seinen Propaganda-Schreihälsen. In der russischen Bevölkerung aber ist kein Enthusiasmus für den Krieg zu erkennen. Und der Westen rüstet die Ukraine nicht aus Begeisterung auf, sondern aus purer Notwendigkeit.

Dabei liefern selbst die USA längst nicht alles, was Kiew gerne hätte (Kampfflugzeuge, Mittelstreckenraketen). Auch die grössten Unterstützer der Ukraine – Polen und die baltischen Staaten – handeln nicht aus Euphorie, sondern aus Angst vor dem Appetit des russischen Bären, mit dem sie schon leidvolle Erfahrungen gemacht haben.

Vor diesem Hintergrund wirkt ein Begriff wie «Kriegsrausch» vollkommen deplatziert. Alain Berset wäre allerdings nicht der erste Bundesrat, der die Schweiz mit einer verfehlten Analogie ins Abseits redet. Gleiches war 1996 Jean-Pascal Delamuraz unterlaufen. Der Bonvivant aus der Waadt befand sich wie heute Berset in seinem zweiten Präsidialjahr.

Auschwitz in der Schweiz

Es war eine turbulente Zeit. Die Schweizer Grossbanken waren wegen ihres Umgangs mit mutmasslichen Konten von Holocaust-Opfern unter gewaltigen Druck aus den USA und von Organisationen wie dem Jüdischen Weltkongress (WJC) geraten. Jahrzehntelang hatten sie entsprechende Anfragen abgewimmelt, doch nach dem Kalten Krieg ging das nicht mehr.

Jean-Pascal Delamuraz, le nouveau president de la Confederation en compagnie de sa femme Catherine est accueillis sur les quais d'Ouchy-Lausanne, a l'occasion de sa reception ce jeudi 14 dec ...
Jean-Pascal Delamuraz mit Ehefrau Catherine an der Feier zu seinem zweiten Präsidialjahr am 14. Dezember 1995. Ein Jahr später kam es zum Eklat.Bild: KEYSTONE

In einem Interview zum Jahresende mit «Tribune de Genève» und «24 Heures» redete sich Delamuraz den Frust von der Seele. Den USA gehe es «um nichts anderes als um die Zerstörung des Finanzplatzes Schweiz», schimpfte der freisinnige Wirtschaftsminister. Wenn er gewisse Leute reden höre, frage er sich manchmal, «ob Auschwitz in der Schweiz liegt».

Antisemitische Angriffe

Es war die Reaktion eines verschonten Schweizers, dem jegliche Sensibilität für das Menschheitsverbrechen der Judenvernichtung fehlte. Die Kritiker im Ausland waren entsetzt und intensivierten den Druck. «Joseph Goebbels wäre stolz auf einen Schüler wie Delamuraz», feuerte die israelische Zeitung «Maariv» im gleichen Stil zurück.

Im Inland hingegen erhielt der FDP-Bundesrat grosse Unterstützung. «Endlich hat es mal einer gesagt», meinten viele Schweizerinnen und Schweizer. Gleichzeitig kam es zu einer Welle antisemitischer Angriffe. Sigi Feigel, der damals bekannteste Vertreter des Schweizer Judentums, wurde mit Schmähungen und Morddrohungen eingedeckt.

Zahlung in Milliardenhöhe

Schliesslich rang sich Delamuraz in einem Brief an den Präsidenten des WJC zu einer verknorzten Entschuldigung durch. Der Schaden aber war angerichtet. Im August 1998 verpflichteten sich die Banken in einem Vergleich mit der US-Justiz zur Zahlung von 1,25 Milliarden Dollar an die Überlebenden des Holocaust und die Nachkommen der Opfer.

Jean-Pascal Delamuraz war damals bereits zurückgetreten, nicht wegen «Auschwitz», sondern weil eine besiegt geglaubte Krebserkrankung wieder ausgebrochen war. Seinen Ruhestand konnte er nur noch ein halbes Jahr geniessen. Auch im Fall von Alain Berset steht die Frage im Raum, ob er als amtsältester Bundesrat nicht aufhören soll.

Amherd spricht Klartext

Im «Tages-Anzeiger»-Interview sprach er «von einem Klima der reinen Kriegslogik, das mich beunruhigt». Diesen Eindruck habe er auch bei vielen Treffen in Davos und New York gewonnen. Indirekt gibt der Bundespräsident damit zu, dass die Neutralität der Schweiz im Ausland doch nicht so «gut verstanden» wird, wie er mehrfach behauptet hat.

Vielleicht sollte der Gesamtbundesrat auf Verteidigungsministerin Viola Amherd hören, die den Druck in der Waffenfrage direkt zu spüren bekommt. Vor der Schweizerischen Offiziersgesellschaft sprach sie am Samstag Klartext: Dass die Schweiz den «erheblichen neutralitätspolitischen Handlungsspielraum» nicht nutzt, werde im Ausland nicht verstanden.

Das war nicht sehr kollegial. Aber die Walliserin ahnt wohl, dass es für die Schweiz ähnlich ausgehen könnte wie in der Holocaust-Kontroverse der 1990er Jahre. Und Analogien wie jene von Delamuraz und Berset «nicht hilfreich» sind.

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80 Kommentare
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Die beliebtesten Kommentare
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olmabrotwurschtmitbürli #wurstkäseszenario
15.03.2023 14:36registriert Juni 2017
Ohne die Aussagen von Berset gut zu finden: CH-Media positioniert sich doch sehr kampagnenhaft gegen ihn.
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Lester
15.03.2023 15:11registriert März 2014
Nun, die Äusserungen Bersets waren sicherlich unglücklich und deplatziert. Aber grundsätzlich entsprechen sie der Haltung des Gesamtbundesrats und somit ist das die Position der offiziellen Schweiz.

Folglich mache ich mir mehr Sorgen darum, wie feige und ohne jeglichen strategischen Weitblick unsere Landesregierung zurzeit agiert. Gleiches gilt übrigens auch sonst in der Aussenpolitik (EU-Beziehungen, Sanktionen gegen den Iran etc.).
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Swen Goldpreis
15.03.2023 16:03registriert April 2019
Auch wenn ich Bersets bzw. die bundesrätliche Position inhaltlich falsch finde und in diesem Fall für die Weitergabe vom Munition und Waffen bin, sehe ich hier keinen sooo grossen Skandal, die Rücktrittsforderungen rechtfertigen würden.

Klar, die Wortwahl ist dümmlich. Aber grundsätzlich finde ich es schon richtig, dass man sich auch Gedanken über das Tagesgeschehen hinweg macht und auch die langfristigen Konsequenzen bei einer Aufweichung der Neutralitätspolitik abwägt. Und sich nicht einfach von Kriegsschreihälsen drängen lässt, die ja interessanterweise selber auch eher vorsichtig agieren.
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