Die Schweiz steht unter Druck. Ihre Weigerung, anderen Ländern die Weitergabe von Waffen an die von Russland angegriffene Ukraine zu erlauben, stösst in Europa und den USA auf wenig bis gar kein Verständnis. Im Parlament gibt es – bislang erfolglose – Bestrebungen, das erst kürzlich verschärfte Kriegsmaterialgesetz zu lockern.
Der Bundesrat aber schaltet auf stur. Am letzten Freitag bekräftigte er einmal mehr, dass eine Wiederausfuhr wegen des Kriegsmaterialgesetzes und der Neutralität nicht infrage komme. Zum Leidwesen von Verteidigungsministerin Viola Amherd, die von Amtes wegen die Kritik stärker zu spüren bekommt als ihre Kolleginnen und Kollegen.
Im Bundesrat aber scheint Amherd isoliert zu sein. Darauf deuten die Interviews hin, die Alain Berset, seines Zeichens amtierender Bundespräsident, den Zeitungen Le Temps und NZZ am Sonntag gegeben hat. Darin verteidigt er die Position der Landesregierung mit einem Furor, der im Ausland und im Inland für Konsternation und scharfe Kritik sorgt.
Zwei Aussagen von Berset stossen vor allem auf Unverständnis. So diagnostizierte der Freiburger Sozialdemokrat in gewissen Kreisen einen «Kriegsrausch» wie zu Beginn des Ersten Weltkriegs. Der Kontext der Aussage deutet darauf hin, dass er auf jene zielte, die der Ukraine bei ihrer Verteidigung helfen wollen, auch mit Waffenlieferungen.
Damit befindet sich Berset in bedenklicher Nähe zu jenen «Putin-Verharmlosern», die die Kriegsschuld ausschliesslich oder hauptsächlich dem Westen, der NATO und vor allem den USA zuschieben. Sie behaupten allen Ernstes, der russische Möchtegern-Imperator handle mit seinem brutalen Überfall und Eroberungsfeldzug im Nachbarland in einer Art Notwehr.
Entsprechend heftig sind die Reaktionen aus dem Parlament. «Das schadet dem Ansehen und der Positionierung unseres Landes», sagte FDP-Präsident Thierry Burkart, der sich für die Weitergabe von Schweizer Waffen an die Ukraine starkmacht, dem SRF. Ähnlich gross ist das Unverständnis bei Mitte-Präsident Gerhard Pfister und GLP-Chef Jürg Grossen.
Die Friedensbewegung verbucht weitere Erfolge! @alain_berset heute in der NZZ: «Schweizer Waffen dürfen nicht in Kriegen zum Einsatz kommen». Er äussert sich für Deeskalation, Waffenstillstand und Friedensverhandlungen. Unser Engagement wirkt, weiter so! 🕊️💜 #BE1103 pic.twitter.com/iOrsp3xtII
— MASS-VOLL!💜 (@mass_voll) March 12, 2023
Es sollte Alain Berset zu denken geben, dass er für seinen Kriegsrausch-Vorwurf einzig von der SVP Applaus erhält. Und von der Bewegung Mass-voll!, die ihn während der Corona-Pandemie als Gesundheitsminister am liebsten zum Teufel gejagt hätte. Der Sozialdemokrat macht sich so zum Erfüllungsgehilfen der Nationalisten und Isolationisten.
Das kommt auch in seiner Partei schlecht an. «Nicht in der Schweiz ist man in einem Kriegsrausch, sondern Herr Putin ist in einem Kriegsrausch», sagte SP-Fraktionschef Roger Nordmann dem SRF. Co-Parteipräsidentin Mattea Meyer stellt gegenüber dem «Blick» klar, man teile Bersets Analyse nicht und habe ihm das so mitgeteilt.
Das gilt auch für den zweiten heiklen Punkt. In der «NZZ am Sonntag» plädierte der Bundespräsident für Verhandlungen mit Russland: «Je früher, desto besser.» Damit manövrierte sich Berset in den Dunstkreis der «Friedensfreunde» um Sahra Wagenknecht und Alice Schwarzer, die sofortige Verhandlungen fordern. Was die Ukraine will, spielt keine Rolle.
Für SP-Co-Präsident Cédric Wermuth ist dies ein No-Go, wie er der NZZ erklärte: «Ich teile den Wunsch von Alain Berset nach einem Ende des Blutvergiessens, aber weder seine Analyse noch die Schlussfolgerungen.» Die Baselbieter Nationalrätin Samira Marti sagte dem «Blick», Putin denke nicht daran, den Krieg zu beenden. Das sei die traurige Wahrheit. «Diese zu verschleiern, ist problematisch.»
Berset räumte ein, der Krieg sei «ein brutaler Angriff von Russland auf die Ukraine und eine massive Missachtung des Völkerrechts». Die Reaktion der Schweiz sei «mit der raschen Übernahme der Sanktionen sehr stark» gewesen. Aber die Neutralität müsse «einen harten Kern» bewahren, damit die Schweiz «einen Beitrag zu Mediation und Frieden» leisten könne.
Mit seinen Aussagen als Bundespräsident zu Waffenlieferungen und Verhandlungen ohne Rücksicht auf die Ukraine aber gefährdet er genau diese Vermittler-Rolle. «Berset untergräbt mit dieser Haltung die Chancen der Schweiz, als Mediatorin zwischen den Stärkeren und den Schwächeren ernst genommen zu werden», heisst es in einem Kommentar der NZZ.
Man muss sich fragen, ob Alain Berset für seine Partei und die Schweiz nicht zunehmend zu einer Belastung wird. Bei der Ressortverteilung im Dezember wurde der amtsälteste Bundesrat zum Verbleib im Innendepartement «verdonnert». Es wird vermutet, der machtbewusste Freiburger wolle mit den Interviews seine Position im Gremium stärken.
Dem Landesinteresse aber hat er keinen Dienst erwiesen. In der Nabelschau-Schweiz wird häufig unterschätzt, wie genau solche Vorgänge im Ausland verfolgt werden. Die Reaktionen auf Bersets Aussagen – und die Verschrottung von Rapier-Flugabwehrraketen, die die Ukraine gut gebrauchen könnte – in den sozialen Medien waren teilweise heftig.
Alain Berset hat den Ruf eines «Teflon-Bundesrats», dem seine Skandale und Skandälchen nichts anhaben können. Auch die Vorwürfe wegen der Corona-Leaks, der mutmasslichen Weitergabe von Bundesrats-Interna durch seinen früheren Kommunikationschef an den Ringier-Verlag, hat der 50-jährige Magistrat bislang unbeschadet überstanden.
Das sind jedoch innenpolitische Affären, die dem Ausland ziemlich egal sind. Für die Haltung der Schweiz im Ukraine-Krieg gilt dies in keinerlei Hinsicht. Wird die offizielle Schweiz in Europa und den USA als unzuverlässige Partnerin oder gar als verkappte «Putin-Versteherin» wahrgenommen, könnte das dem Land teuer zu stehen kommen.
Alain Berset werde von Sozialdemokraten als «abgehoben» und von Ja-Sagern umgeben bezeichnet, heisst es im «Blick». Man muss sich je länger, desto mehr fragen, ob er der Schweiz – und sich selbst – mit einem baldigen Rücktritt nicht einen Dienst erweisen würde.