«Kennen Sie das Psychogramm des Bundesrats?», fragt eine Person, die beruflich regelmässig mit Mitgliedern der Landesregierung zu tun hat. Und setzt dann an, ohne eine Antwort abzuwarten: «Keller-Sutter und Berset geben den Ton an. Ueli Maurer macht, was er will. Sommaruga ist in ständiger Aufregung wegen der Stromversorgung. Amherd überlegt immer gerade, woher der Wind weht. Parmelin steckt in der Zwickmühle zwischen der SVP und seinen Chefbeamten. Und Cassis ist überfordert.»
Es ist eine Karikatur der Landesregierung. Wie bei jeder Karikatur wird die Kritik überspitzt dargestellt - doch zielt sie auf den Kern des Problems. Zumal der anonyme Kritiker nicht allein dasteht. Landauf, Landab lautet der Tenor zurzeit: Der Bundesrat in seiner Zusammensetzung funktioniert schlecht. In Einzelfällen gar nicht. Er steckt in einem historischen Formtief.
Die Symptome sind zahlreich, wie ein Blick auf die letzten Tage zeigt. Da war Cassis' Intervention bei der Botschaft Kanadas, mit der er den Überflug eines Nato-Fliegers stoppte, bevor die Gesamtregierung wie geplant darüber diskutieren konnte. Er wollte offenbar das eh schon belastete Gremium vor einer emotionalen Neutralitätsdiskussion bewahren. Von Sabotage sprach man indes in andern Departementen.
Da war jene Sitzung am 24. Februar zu Beginn des Krieges, für die weder der Bundespräsident, die Bundeskanzlei, noch der für die Sanktionspolitik zuständige Wirtschaftsminister Parmelin handfeste Diskussionsgrundlagen lieferten. Auf Cassis' Auftritt vor den Medien, der nach seiner kurzen Erklärung ohne eine Frage zu beantworten in den Kulissen verschwand, folgte ein Informationsdebakel, das in seinem Ausmass an die PR-Pleite von Hans-Rudolf Merz erinnerte, als dieser 2009 statt mit befreiten Schweizer Geiseln ohne Gepäck aus Libyen zurückkehrte.
Und da war vier Tage später, am 28. Februar, der interne Streit darum, wer der Öffentlichkeit die volle Übernahme der EU-Sanktionen und die neue bundesrätliche Position zum russischen Angriff erklären darf. Fünf Regierungsmitglieder sollen sich um den Auftritt im Bundesmedienzentrum gebalgt haben: Bundespräsident Cassis, Migrationsministerin Keller-Sutter und Finanzminister Ueli Maurer, der zur Blockade russischer Vermögen auf Schweizer Banken referieren sollte, waren gesetzt.
Naheliegend wäre der Auftritt von Wirtschaftsminister Parmelin gewesen, der die Sanktionspolitik verantwortet. Doch auch Amherd drängte sich vor: Die Verteidigungsministerin, die vom Krieg wie ihr Armeechef komplett überrumpelt worden war, wollte den Auftritt nutzen für einen Werbespot für die Armee. Dem Vernehmen nach brauchte es während der Bundesratssitzung eine Pause, um sich zu einigen. Ergebnis: Parmelin liess Amherd zähneknirschend den Vortritt.
Wer nun erwartet hat, dass der geballte Auftritt einer Regierungsmehrheit den Startschuss für eine kohärente Strategie im Umgang mit dem Ukraine-Krieg darstellen würde, sieht sich getäuscht: Bundespräsident Cassis mäandriert seither zwischen geradezu euphorischer Parteinahme für die Ukraine mit ihrem Präsidenten Selenski und diplomatisch-juristischer Zurückhaltung. «My friend» nannte er Selenski an einer Kundgebung auf dem Bundesplatz.
Dann wieder veröffentlichte sein Departement einen Tweet, in dem es die Massaker an Zivilisten in einem Kiewer Vorort als «Entwicklungen in Butscha» bezeichnete, statt wie viele andere westliche Regierungen von «Kriegsverbrechen» zu sprechen. Cassis sah sich Tags darauf genötigt, nachzubessern. Er sprach nun von «Gräueltaten», den Begriff Völkermord vermied er weiterhin – im Unterschied zu Keller-Sutter, die in einem Interview mit der NZZ von «klaren Hinweisen auf Kriegsverbrechen» sprach.
Doch nicht nur Cassis sorgt für Unverständnis. So hat es Sanktionsminister Parmelin noch immer nicht geschafft, sein Wirtschaftsamt, das Seco, auf Touren zu bringen. Sechs Wochen nach dem Überfall auf die Ukraine brüten seine Beamten erst jetzt intensiv über die Frage, wie sogenannt thematische Sanktionen der EU übernommen werden könnten. Es geht etwa um die Söldnertruppe Wagner oder die Hacker des Kreml.
Auch die Bundesrätinnen Amherd und Sommaruga verrannten sich in der Russland-Frage: Mit ihrem Antrag, Putins Propagandakanäle «Sputnik» und «Russia Today» zu verbieten, liefen sie selbst in ihren Parteien und im Falle Sommarugas beim Genossen im Bundesrat, Alain Berset, auf. Eine offene Gesellschaft lässt sich nicht mit Zensur verteidigen.
Soweit die Symptome. Nun zur Diagnose. Was liegt dem Zanken, dem Ellbögeln, Zögern und Zaudern zugrunde?
Da ist zunächst die parteipolitische Ausgangslage. Sie überschattet die gesamte Legislatur. Seit den Wahlen 2019 müssen FDP und SP um einen ihrer Bundesratssitze fürchten. Und auch die Mitte, ehemals CVP, steht unter Druck: Gemäss einer rein arithmetischen Auslegung der Zauberformel, wonach die drei stärksten Parteien zwei Sitze im Bundesrat erhalten und die viertstärkste einen, müsste sie auf Amherds Sitz verzichten. Die Grünen kamen 2019 mit 13.2 Prozent der Stimmen auf den vierten, die CVP mit 11.4 Prozent lediglich auf den fünften Platz. Noch wurden die Grünen bei der anschliessenden Bundesratswahl auf die Wartebank verwiesen. Ein zweites Mal dürfte das schwieriger werden.
Freilich werden 2023 nicht Mathematiker den Bundesrat wählen, sondern die Mitglieder der Bundesversammlung. Diese stellen eigene Rechnungen an, je nach politischen Vorlieben. Die Linke sieht die FDP seit 2019 mit zwei Sitzen im Bundesrat deutlich übervertreten. Rechts hält man dagegen, die SP sei nur unwesentlich stärker, sie solle doch einen Sitz den Grünen abtreten, die praktisch deckungsgleich politisieren. Fazit: Je nach Ausgang der Wahlen 2023 müssen fünf der sieben Magistraten um ihre Wiederwahl bangen, Cassis und Keller-Sutter, Amherd, Sommaruga und Berset. Ausgenommen sind Maurer und Parmelin, es sei denn, die übrigen Parteien sprechen der SVP die Regierungsfähigkeit ab.
Diese anhaltende Unsicherheit und «der ständige Wahlkampf», wie ein Regierungsmitglied es beschreibt, beeinträchtigen die Zusammenarbeit des Kollegiums nachhaltig. Aus allen Departementen sickern regelmässig Indiskretionen an die Medien. Sei es, um öffentlichen Druck zu Gunsten eigener Anträge zu erzeugen. Sei es, um Anträge von Regierungskollegen der öffentlichen Kritik auszusetzen, sie abzuschiessen.
Zuletzt häuften sich zudem Ankündigungen von Bundesrätinnen und Bundesräten, die ihre Haltung zu bestimmten Themen öffentlich kundtaten, die erst noch im Bundesrat diskutiert werden sollten. Keller-Sutter sprach sich kurz nach Kriegsausbruch am Rande eines Ministertreffens in Brüssel für die volle Übernahme der EU-Sanktionen aus, bevor der Bundesrat dies entschieden hatte. In Erinnerung ist auch das Interview von Ueli Maurer, der im April 2020 die Coronapolitik Schwedens lobte und für eine rasche Öffnung der Restaurants in der Schweiz plädierte. Es erschien am Morgen vor der Bundesratssitzung in der NZZ.
Es waren solche Querschüsse, die zu einem Klima des Misstrauens führten. Mit dem Effekt, dass die Magistratinnen und Magistraten ihre heikelsten Geschäfte inzwischen meist unter grosser Geheimhaltung vorbereiten. Sie geben die Unterlagen so spät als möglich an die Kolleginnen und Kollegen ab. Gerne werden solche Dossiers ausdrücklich als geheim deklariert.
Der Kreis der Beraterinnen und Berater, die sich damit beschäftigen können, wird damit stark eingegrenzt. So geschah es wiederholt beim besonders wichtigen, aber auch besonders umstrittenen Europadossier. Die Geheimniskrämerei verhindert zwar Indiskretionen. Sie hat aber den Nachteil, dass bei heiklen Geschäften die Diskussion im Kollegium schlechter vorbereitet und weniger Know-how beigezogen werden kann. Dass dadurch die Qualität leidet, liegt auf der Hand.
Verschärft wird diese gruppendynamische Blockade durch das Kollegialitätsprinzip. Trotz ihrer gegensätzlichen Weltanschauungen, ihrer unterschiedlichen kulturellen Herkunft, ihrer auf Profilierung konditionierten Persönlichkeiten sind die sieben Landesmütter und Landesväter auf Gedeih und Verderb aufeinander angewiesen. Dossiers können nur in Zusammenarbeit vorangebracht werden.
Liefern Departemente keine Entscheidgrundlagen, wie am 24. Februar an der kurzfristig anberaumten Sitzung zur Sanktionspolitik, sind den Kolleginnen und Kollegen weitgehend die Hände gebunden. Der Spott, wir verfügten nicht über eine Zauberformel, sondern eine Zauderformel, trifft dann aber das ganze Gremium.
Es stellt sich darüber hinaus die Frage, wie weit das Kollegialitätsprinzip reicht, wenn der Bundespräsident das Wort «Kriegsverbrechen» nicht in den Mund nehmen will. Ist der Begriff dann für seine Parteikollegin Keller-Sutter auch tabu? Dass die Schicksalsgemeinschaft Bundesrat einzelne seiner Mitglieder gelegentlich zur Verzweiflung treibt, ist insofern verständlich. Und angesichts der ausgebauten Kommunikationsbrigaden in den sieben Departementen darf man sich auch nicht über den regen Flugverkehr von Giftpfeilen in Bundesbern wundern.
Nun mag man einwenden, dass die Schweiz trotz all dieser Kalamitäten im internationalen Vergleich gut durch die Coronakrise gekommen sei. Mit einigen Abstrichen - erinnert sei an das Maskendebakel oder den Herbst 2020 mit überfüllten Spitälern - trifft das zu. Das hat Gründe: Dank dem Epidemiengesetz standen die politischen Instrumente bei Ausbruch der Krise schon bereit. Auch war klar, wer die Führungsrolle innehatte: Innenminister Berset.
Angesichts der Belastung und der politischen Risiken, die das Seuchenmanagement barg, liessen ihm die andern sechs besonders in den heikelsten Phasen noch so gerne den Vortritt. Berset selbst gefiel die Rolle des Roi-Soleil im Kampf gegen Viren, Coronaleugner und Kantönligeist offensichtlich. Davon zeugt ein Buch mit langen Interviews, für die er trotz Pandemie offensichtlich genug Zeit fand.
Jetzt aber, mit dem Ukraine-Krieg, sind die Zuständigkeiten gleichmässiger verteilt. Die meisten Probleme betreffen mehrere Departemente zugleich: Die Umsetzung der Sanktionen obliegt dem Wirtschaftsminister und - was den Finanzplatz betrifft - dem Finanzminister. Den Druck westlicher Handelspartner, diese lückenlos zu übernehmen, kommt aber zuerst bei den Diplomaten des Aussendepartements an.
Für die Aufnahme der Flüchtlinge ist die Justizministerin zuständig, zusammen mit den Kantonen und Gemeinden. Bei der Versorgungssicherheit richtet sich der Blick auf Energieministerin Sommaruga und Wirtschaftsminister Parmelin. Sicherheitsfragen betreffen das Verteidigungsdepartement, das Justizdepartement und, was die Kontrolle des Luftraums betrifft, wieder das Departement von Sommaruga. Und Cassis, der Vielgescholtene, soll das alles als Bundespräsident koordinieren. Die Herausforderung ist enorm - und wird gross bleiben.
Denn der Ausblick auf den Herbst gibt wenig Grund zur Hoffnung. Das Ende des Kriegs ist nicht in Sicht. Selbst bei einem Waffenstillstand wird sich Putin kaum aus den besetzten Gebieten zurückziehen. Die Sanktionen gegen Russland, die wohl noch weiter ausgedehnt werden, dürften noch lange Zeit bestehen bleiben. Mit den wirtschaftlichen Konsequenzen, die das für Europa und die Schweiz nach sich zieht: Etwa in anhaltend hohen, vielleicht sogar weiter steigenden Energiepreisen und höheren Kosten auch für Lebensmittel.
Die Ausgaben für das tägliche Leben dürften steigen, verschärft durch einen weiteren Schub bei den Krankenkassenprämien und eine mögliche Baisse der Wirtschaft. Damit ist mit Schwarzmalen nicht genug: Experten schliessen nicht aus, dass im Herbst die nächste Welle der Coronapandemie über das Land schwappt.
Kurz: Bundespräsident Cassis und den Bundesrätinnen und Bundesräten steht ein anhaltender Stresstest bevor. Angesichts dieser Belastung könnte ein Rücktritt oder eine Abwahl aus der Regierung Ende 2023 für die eine oder den andern geradezu als Befreiung angesehen werden. (aargauerzeitung.ch)
Zudem sollten die BRs evtl. mal auf die Idee kommen Die Auftritte und das Wording abzusprechen. Es hinterlässt einen schalen Geschmack, wenn 2 BR derselben Partei ein komplett unterschiedliches Wording nutzen.
Und, "Kei Luscht Ueli" soll gefälligst endlich abtreten!