Mehrere bürgerliche Nationalratsmitglieder haben am Montag emotionale und teilweise wütende Worte an den Bundesrat gerichtet. Dessen Corona-Politik sei gescheitert. Deshalb müsse das Parlament das Zepter nun wieder übernehmen. Der Ausgang der Debatte ist offen.
Beim Prolog zur sechs- bis siebenstündigen Marathondebatte zu den Änderungen im Covid-19-Gesetz in der grossen Kammer flogen wie erwartet die Wortfetzen. Ungewohnt scharf wurde gegen den Gesamtbundesrat geschossen. Stellvertretend für die Landesregierung musste Finanzminister Ueli Maurer zuhören und sich rechtfertigen.
Bereits am Mittwoch hatte die grosse Kammer gegenüber dem Bundesrat mit einer verabschiedeten Erklärung ihren Missmut über die zu langsamen Lockerungsschritte geäussert. Nun konnten sich alle Fraktionen zur Corona-Strategie des Bundesrats äussern.
Die vorgebrachten Vorwürfe sind teilweise happig. Es ging um den Vorwurf der Diktatur, um inszenierte Theater und um verlorene Nerven. «Tagtäglich werden Wirtschaftsfreiheit und Bewegungsfreiheit vom Bundesrat massiv beschränkt oder aufgehoben», sagte Magdalena Martullo-Blocher (GR) für die SVP-Fraktion. Der Bundesrat regle bis ins kleinste Detail alles alleine, sogar wer wo sitzen dürfe.
Am Vorwurf, dass der Bundesrat die Schweiz in eine Diktatur verwandelt habe, hielt Martullo-Blocher fest. «Bei der Diktatur handelt es sich laut Definition um wenige, die willkürlich über viele herrschen.» Es sei die Pflicht des Parlaments, die Kompetenzen des Bundesrats mit dem Covid-Gesetz zu beschränken.
Die SVP-Fraktion unterstütze es, dass das Öffnungsdatum 22. März ins Gesetz geschrieben werde und die wissenschaftliche Taskforce des Bundes nur noch mit ihrem Präsidenten in der Öffentlichkeit in Erscheinung trete, hielt Martullo-Blocher fest.
Die Mehrheit der Mitte-Fraktion will dies unterstützen, wie Leo Müller (CVP/LU) erklärte. Es sei aber verschwiegen worden, dass die Kommission gleichzeitig beschlossen habe, «dass der Bundesrat weiter die Möglichkeit hat, Betriebe während maximal neunzig Tagen zu schliessen».
Die FDP-Fraktion hatte vergangene Woche angekündigt, auf feste Daten im Gesetz verzichten zu wollen. Trotzdem übte sie scharfe Kritik am Bundesrat. «Das Leben in permanenter Unsicherheit ist unerträglich», sagte Daniela Schneeberger (FDP/BL). Der Bundesrat gebe in der Krise kaum Perspektiven, obwohl die Zahlen zeigten, «dass wir die Krise meistern».
Der Bundesrat müsse deshalb «neue Termine festlegen für weitere Öffnungen», sagte Schneeberger. Es fehle der Landesregierung aber am Willen, die eigene Macht loszulassen. Derzeit sei die Bevölkerung mit «willkürlichen staatlichen Einschränkungen der Freiheit» konfrontiert. Die Regierung müsste laut der FDP ihre Test- und Impfstrategie verstärkt umsetzen.
Die Linke kritisierten in der Eintretensdebatte zum Covid-19-Gesetz nicht den Bundesrat, sondern vielmehr die bürgerlichen Kreise, «die das Ziel aus den Augen verloren haben», wie es Franziska Ryser (Grüne/SG) ausdrückte. «Sie riskieren eine Verlängerung der Krise, statt der Bevölkerung und den Unternehmen eine verlässliche Perspektive zu geben.»
Die Kritik der SVP- und FDP-Fraktion an den eigenen Bundesräten sei «nutzlose Symbolpolitik», monierte Ryser. Sie zeigte sich ernüchtert: «Bei meiner Wahl in den Nationalrat hatte ich einen riesigen Respekt vor der Arbeit in diesem Haus.» Heute sei das anders.
Gegen die Beschränkung der Macht des Bundesrats ist auch die SP. Mattea Meyer (SP/ZH) hielt fest, dass die gesamte Gesellschaft in der Krise viel Geduld aufgebracht habe. «Wer die Nerven verloren hat, ist eine Mehrheit der vorberatenden Kommission. Sie haben mit dem Maulkorb für die Wissenschaft ein groteskes Theater aufgeführt.»
Auch die GLP lehnt die bürgerlichen Anträge ab. Jürg Grossen (GLP/BE) sprach in diesem Zusammenhang von «Hauruck-Aktionen, die nichts bringen». Das Parlament müsse fortan mit der «notwendigen Verantwortung und Vernunft» handeln.
Mit einer gewissen Unsicherheit müsse die Bevölkerung wohl oder übel leben können, sagte Melanie Mettler (GLP/BE). Es gelte, die Epidemie zu bewältigen, einen Wirtschaftskollaps zu vermeiden und das Wohlergehen der Bevölkerung zu erhalten. Dazu brauche es eine «konstruktive Debatte».
Finanzminister Ueli Maurer ging in seinem Votum nicht weiter auf die Kritik im Nationalrat ein. Er sagte nüchtern: «Die ganze Frage, was richtig und was falsch ist, muss diskutiert werden.» Der Bundesrat sei der Meinung, dass die gesundheitliche Lage laufend beurteilt werden müsse. Basierend darauf fälle die Regierung ihre Entscheide.
In den nächsten Stunden diskutiert der Nationalrat über die zweite Revision des Covid-19-Gesetzes. Ganze 63 Seiten hat die Fahne dazu. Insgesamt 54 Minderheitsanträge und 24 Einzelanträge muss der Rat am Montag behandeln. Die Debatte dürfte sich bis in den späten Abend hineinziehen. (aeg/sda)