Das Wort «ausserordentlich» ist im Grunde genommen untertrieben. Um die Coronapandemie zu bekämpfen, hat der Bundesrat vor einem Monat die «ausserordentliche Lage» ausgerufen. Regiert wird mit Notrecht. Die Landesregierung kann alle in ihren Augen notwendigen Verordnungen und Verfügungen erlassen.
Damit die Behörden reaktionsfähig bleiben, wurden die Grundrechte eingeschränkt; so radikal und umfassend wie nie seit dem Zweiten Weltkrieg. Den Werkzeugkasten dafür liefert das Epidemiengesetz. Es erlaubt dem Bundesrat, beim Seuchenmanagement schrittweise in den Krisenmodus zu wechseln.
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Für das Gesetz ist die Coronapandemie eine harte Bewährungsprobe, und zwar eine im freien Feld. Denn die Wirklichkeit hat die Theorie mit rasender Geschwindigkeit überholt. Um herauszufinden, wie gut das Gesetz umgesetzt wird und wo noch Schwachstellen bestehen, gab das Bundesamt für Gesundheit (BAG) erst noch eine externe Untersuchung in Auftrag. Blöd nur: Ehe die Resultate vorliegen, breitet sich die grösste Pandemie seit hundert Jahren aus. Nützliche Erkenntnisse, die nun fehlen.
Im vergangenen Sommer betraute das BAG das Beratungsunternehmen Bolz und Partner mit der Situationsanalyse «Umsetzung des Epidemiengesetzes». Für das Berner Büro arbeiten Ökonomen und Juristen ebenso wie Soziologen und Politologen, unter ihnen frühere Spitzenbeamte. Ihre Aufgabe ist im BAG-Pflichtenheft klar umrissen: «Einen Überblick über den Stand der Umsetzung des Epidemiengesetzes und seiner Verordnungen geben und Hinweise auf einen allfälligen Optimierungsbedarf liefern».
Die Rede war von einer Gesamtschau. Auf deren Grundlage sollen die Gesundheitsexperten des Bundes dann das Gesetz nachjustieren; indem sie «den Handlungsbedarf identifizieren» und «Optimierungsentscheide fällen», wie das im Beamtenjargon heisst.
Mit anderen Worten: Es geht um Erkenntnisse, die bei der Bekämpfung der Coronapandemie äusserst nützlich sein könnten – wären sie denn bei Ausbruch der Krise schon vorgelegen. Doch das BAG hat Pech mit dem Timing. Die im Juli 2019 gestartete Untersuchung ist laut dem amtseigenen Fahrplan noch nicht fertig. Der Schlussbericht inklusive Stellungnahme wird im Juni erwartet.
Immerhin bestätigt das BAG auf Anfrage: «Der Erst-Entwurf des Schlussberichts mit den provisorischen Ergebnissen liegt vor.» Der Bericht müsse jedoch noch überarbeitet werden, bevor er publiziert wird.«Insbesondere konnte die notwendige fachliche Diskussion der Ergebnisse noch nicht geführt werden», räumt ein BAG-Sprecher ein.
Diese werde kaum vor Sommer stattfinden. Sämtliche Mitglieder der Begleitgruppe – sie wird von Krisenmanager Daniel Koch geleitet – und die weiteren involvierten Gremien seien mit der Bewältigung der Coronapandemie beschäftigt. Diese selbst sei allerdings weiterhin nicht Thema der Situationsanalyse, hält das BAG fest. «Der Auftrag wurde nicht angepasst.»
Offen bleibt die Frage, welche Schlüsse die Behörden gezogen hätten, wenn allfällige Lücken in der Pandemiebekämpfung schon vor der jetzigen Krise bekannt geworden wären. Unterdessen ist das jüngste Epidemiengesetz seit über vier Jahren in Kraft.
Es wurde 2013 nach einem Referendum vom Schweizer Stimmvolk angenommen. Mit dem Gesetz sollen die Behörden besser gegen übertragbare Krankheiten vorgehen und diesen effektiver vorbeugen können. Die Kompetenzaufteilung zwischen Kantonen und Bund wurde neu geregelt. Zudem wurde das dreistufige Modell mit «normaler», «besonderer» und «ausserordentlicher Lage» eingeführt.
Das BAG selbst machte schon vor Jahren deutlich: Angesichts der mitunter schweren Eingriffe ins öffentliche oder private Leben muss sorgfältig evaluiert werden, wie wirksam und zweckmässig das Epidemiengesetz ist. Solche Übungen kommen nun zu spät. Das Coronavirus ist gleich eine schwere Prüfung.
Bin ja schon auf den Schlussbericht gespannt!
Hauptsache niemand, der sich mit Epidemien wirklich auskennt.