Während in der Schweiz die Booster-Impfungen nach dem Start im November erst in den letzten Tagen so richtig Schwung aufgenommen haben, fing Israel schon Ende Juli mit der dritten Impfung an und ermöglichte diese bis Ende August für alle, welche seit sechs Monaten doppelt geimpft waren.
So erhielten in Israel schon 4,18 Millionen Booster-Berechtigte ihre dritte Impfung, während dies in der Schweiz nur 1,8 Millionen sind.
Allerdings: Da Israel bekanntlich viel früher mit Impfen begann, wären aktuell praktisch alle doppelt Geimpften Booster-berechtigt, was bei einer vollständigen Impfquote von rund 63 Prozent zirka 5,18 Millionen Einwohner bedeuten würde. Es haben sich also rund eine Million Booster-Berechtigte noch nicht ein drittes Mal impfen lassen, obwohl Zeit und Kapazitäten in Israel vorhanden wären. Warum?
Wir haben über diese mögliche Booster-Müdigkeit mit Prof. Dr. med. Philip Tarr, Co-Chefarzt der Medizinischen Universitätsklinik, Infektiologie und Spitalhygiene im Kantonsspital Baselland und Leiter des nationalen Forschungsprogramms NFP 74 zur Impfskepsis in der Schweiz gesprochen. Zum einen, wie sich diese Booster-Müdigkeit in Israel erklären lässt, aber vor allem auch: Was würde eine ähnliche Entwicklung in der Schweiz für uns bedeuten?
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Philip Tarr, in Israel liessen sich bisher rund eine Million Booster-Berechtigte die dritte Impfung nicht geben. Vor allem Jüngere zögern. Können Sie das nachvollziehen?
Philip Tarr: Direkt zu Israel kann ich die Gründe dafür nicht nennen. Ich weiss es einfach nicht. Aber allgemein kann ich mir das schon vorstellen. Jüngere haben weniger Angst vor Covid-19. Ältere Leute, die schon zwei Impfungen machen liessen, werden wohl eher auch noch eine dritte machen, weil sie ja viel eher Risikopersonen sind.
Hauptgrund gegen den Booster ist gemäss einer Umfrage in Israel für viele Jüngere die Angst vor langfristigen Nebenwirkungen. Woher kommt diese Sorge bei einer dritten Impfung, obwohl man sich die gleiche Impfung schon zweimal spritzen liess?
Die Impfung ist neu, es hat sie vor der Pandemie nicht gegeben, da ist eine Skepsis normal. Da nützt es wohl auch nicht viel, dass Experten nicht mit neuen (langfristigen) Nebenwirkungen rechnen. Natürlich kann man das heute nicht definitiv sagen, aber die Chancen sind extrem klein.
Immer wieder geistert in diesem Zusammenhang die Pandemrix-Impfung herum, wo die Spätfolgen erst viele Monate später entdeckt wurden. Spielt das eine Rolle?
Pandemrix geistert tatsächlich ab und zu herum, aber ich glaube, das ist eher bei den Impfgegnern der Fall, nicht bei Leuten, die sich schon zweimal impfen liessen. Aber auch bei Pandemrix war es so: Die Nebenwirkungen traten in den ersten drei Monaten nach der Impfung auf, man hat sie einfach erst nach einem Jahr entdeckt, weil sie so selten war und man den Zusammenhang nicht gleich hergestellt hat. Aber die Covid-Impfungen wurden schon milliardenfach verimpft und weil es ein neuer Impfstoff ist, schauen alle sowieso ganz genau hin. Wir hätten solche Nebenwirkungen entdeckt. Ich habe keine Bedenken, dass wir jetzt noch neue Nebenwirkungen entdecken werden.
Bei vielen jüngeren doppelt Geimpften in Israel halten auch die möglichen kurzfristigen Nebenwirkungen vor dem Booster ab. Verständlich?
Auch das finde ich verständlich. Man weiss vielleicht, dass man danach schon mal einen Tag krank ist und dass Jüngere wegen Covid-19 sehr selten im Spital oder auf der Intensivstation landen. Darum finde ich es okay, wenn die Jüngeren da abwägen.
Aber es geht ja mit der Impfung auch darum, einen Beitrag zum Ende der Pandemie zu leisten.
Ja. Aber das Moralische ist, wenn wir nur allgemein formulieren, ein schwieriges Argument. Die Ethikerinnen reden konkret von moralischer Pflicht zu impfen, Kontakte zu reduzieren und die Hygienemassnahmen einzuhalten.
Das Vertrauen gegenüber den Behörden war in Sachen Impfung sicher auch schon grösser. Erst hiess es, dass zwei Impfungen reichen, dann, dass der Booster reicht und jetzt denkt Israel schon über eine vierte Impfung nach. Können Sie das nachvollziehen?
Die Behörden befürchten, dass sie etwas zur Impfung sagen, das die Leute skeptisch macht. Darum betonen sie die positiven Aspekte der Impfung. Kommunikativ ist die aktuelle Situation sehr herausfordernd. Man hatte so eine Situation einfach noch nicht. Niemand kann sicher sagen, dass es nach zwei, drei, vier Impfungen vorbei ist. Die Forschung von uns und anderen zeigt: Transparenz würde das Vertrauen in die Behörden stärken.
Was hätten die Behörden tun sollen?
Dass die Impfung sicher ist, kann man heute mit den Daten klar sagen, dass sie wirksam ist, auch. Aber natürlich können neue Varianten kommen und dann muss man vielleicht wieder schauen. Das könnte man auch so kommunizieren. Das Vertrauen in die Behörden nimmt ab, wenn die Bevölkerung den Eindruck kriegt, dass sie immer wieder ihre Meinung ändern. Sie müssten klarer sagen: Das ist alles neu, heutige Tatsachen können sich in den nächsten Wochen wieder ändern.
Was halten Sie von der vierten Impfung, welche in Israel vorbereitet wird für Ü60-Jährige und medizinisches Personal?
Israel macht das jetzt wegen der berechtigten Angst vor Omikron. Aber vielleicht bräuchte es keine, oder noch keine, vierte Impfung. Wir haben da noch zu wenig Daten dazu. Wie lange die dritte Impfung wirkt, kann man noch nicht sagen. Israel geht in der Impffrage einfach viel dynamischer und ehrgeiziger an das Thema ran als die Schweiz. Wir sind hier zwei Monate im Rückstand gegenüber dem Durchschnitt, Israel drei Monate voraus. Wir werden am Ende sehen, welcher Weg zielführender war.
Kann eine vierte Impfung zu kurz nach der dritten gefährlich sein?
Dazu haben wir noch keine Daten. Aber kein Experte erwartet eine zusätzliche Gefahr, das wäre sehr überraschend.
Es gibt ja auch viele Impfungen, welche nach drei Dosen ein Leben lang halten. Warum kann das bei Covid-19 anders sein?
Hepatitis B mutiert beispielsweise nicht. Da schützt die einmal aufgebaute Immunabwehr lebenslang. Das Coronavirus ist ganz anders: es mutiert. Aber das bedeutet jetzt auch nicht, dass wir alle sechs Monate impfen müssen.
Warum nicht?
Omikron hat beispielsweise das Potenzial, alle anzustecken, die bisher noch keine Immunabwehr aufgebaut haben. Wer die Ansteckung übersteht, baut eine Immunität auf. Das hat dann zur Folge, dass nächste Infektionen milder verlaufen werden. Aktuell gehen Experten eher davon aus, dass es nicht alle sechs Monate eine Auffrischung benötigt.
Diese Booster-Müdigkeit in Israel, stellen Sie diese auch in der Schweiz fest?
Das ist noch zu früh, um es zu beurteilen. Die nächsten Wochen werden es zeigen. Gemäss aktuellem Stand ist es wohl so: Wer sich zweimal geimpft hat, hat einen zu kleinen Schutz vor Omikron. Eine dritte Impfung nützt aber sehr gut.
Was würde es bedeuten, wenn sich in der Schweiz zu viele den Booster entgehen lassen?
Vermutlich hätten wir sehr hohe Infektionszahlen und diese wirken sich dann mit vielen Hospitalisationen auf das Gesundheitssystem aus. Es könnte nochmals kritisch werden, weil wir noch zu viele Personen haben, die aktuell keinen Immunschutz durch Impfung oder Genesung haben.
So etwas wie eine Impfmüdigkeit oder gesteigerte Impfskepsis stellen Sie aber nicht fest?
In der Schweiz waren schon vor der Pandemie viele Menschen impfskeptisch, laut Umfragen rund 30 Prozent, aber am Ende liessen sich dann doch über 90 Prozent die «üblichen» Impfungen verabreichen. Der politische Aspekt und Sorgen vor Impfnebenwirkungen sind jetzt in der Pandemie viel grösser als zuvor, darum fällt ein direkter Vergleich hier schwer.
Bin doppelt geimpft und mein Umfeld U60 ist geboostert. Dass ich mich als U40 nun quasi auf Vorrat alle 4 bis 6 Monate impfe, kommt allerdings nicht in Frage.