Das Virus und seine Folgen haben die Schweiz hart getroffen. Aber nicht unvorbereitet. Denn eine Pandemie gehört seit Jahren zu den grössten Risiken der Schweiz. Die Behörden sorgten für den Katastrophenfall vor, Krisenstäbe übten den Ausnahmezustand. Und es gab das Epidemiengesetz, in dem die Regeln für den Fall der Fälle stehen.
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Als die Krise tatsächlich kam, wussten die Fachleute beim Bund grosso modo, was sie zu tun hatten. Sie wussten aber auch, was sie nicht wissen konnten – weil ihnen dafür die Expertise fehlte: Im zuständigen Bundesamt für Gesundheit (BAG) gab es einige fachliche Lücken. Es mangelte in manchen Bereichen an Expertise, es fehlte der Zugang zu Fachleuten. Zu diesen Schluss kam eine 217 Seiten starke Analyse des Epidemiengesetzes bereits 2018.
Der Politologe Christian Rüefli vom Beratungsbüro Vatter und der Gesundheitsrechtler Christoph Zenger beleuchteten im Auftrag des BAG, wie gut bei einer «besonderen» oder einer «ausserordentlichen Lage» gemäss Epidemiengesetz – Letztere hat der Bundesrat im Fall des Coronavirus erklärt – die Behörden von Bund und Kantonen zusammenarbeiten könnten.
In solchen Lagen gehen nämlich Kompetenzen von den Kantonen an den Bund über. In Bern wird entschieden, ob die Schulen geschlossen werden. Welche Eingriffe die Spitäler noch vornehmen dürfen. Was die Detailhändler verkaufen dürfen und was nicht. Es sind tiefgreifende Entscheide in den Alltag aller, die aber weit weg von den Bundesbeamten sind.
Obwohl plötzlich hochaktuell, fand die Studie in der Coronakrise nur wenig Beachtung. Jetzt aber, wo der Ausnahmezustand allmählich seinem Ende zugeht, hilft sie, die Theorie einem Praxischeck zu unterziehen. Welche Lehren lassen sich aus der teilweise mangelhaften Krisenvorsorge ziehen? Auf welche Grundlagen stützte der Bund seine Massnahmen? Und holte er die Fachwelt an Bord, um den Ausbruch der Pandemie zu beobachten?
Fakt ist: Epidemiologen, Virologen und andere Forscher beklagten sich während Wochen, dass Bern sie nicht einbeziehe. «Das BAG involviert uns Wissenschafter nicht in die Bekämpfung der Epidemie», kritisierte der Lausanner ETH-Epidemiologe Marcel Salathé im März in dieser Zeitung. Ganze 35 Tage vergingen nach dem ersten bestätigten Coronafall in der Schweiz, bis der Bund in der ersten Aprilwoche doch noch ein wissenschaftliches Beratergremium einberief.
In weiten Teilen drehte sich die Analyse von 2018 um Kompetenzkonflikte. Um die Aufgabenverteilung im Krisenfall. Um juristische Aspekte. Die Autoren untersuchten jedoch auch, ob das BAG «über die nötigen Fähigkeiten und fachliche Expertise zur Erfüllung der Aufgaben verfügt».
Dafür führten sie gründliche Befragungen durch. Zum einen sprachen sie mit den BAG-Verantwortlichen, allen voran mit Daniel Koch, jahrelang Chef der Abteilung Übertragbare Krankheiten und nun Delegierter für Corona. Zum anderen interviewten sie Kantonsärzte und Mitarbeiter kantonaler Gesundheitsdirektoren.
Der Hauptbefund: Es gebe «Lücken bezüglich Fachwissen und Expertise» in Themenbereichen, in denen das BAG in normaler Lage nicht zuständig sei. Zwar könne sich die Behörde das Wissen wenn nötig im Gespräch mit der Forschung, in Fachnetzwerken oder via Arbeitsgruppen beschaffen. «Gemäss Gesprächsaussagen bestehen diesbezüglich allerdings Schwierigkeiten hinsichtlich der zeitlichen Verfügbarkeit geeigneter Fachpersonen und aufgrund fehlender oder zu schwacher Einbindung des BAG in Fachnetzwerke auf internationaler, namentlich europäischer Ebene», heisst es in der Analyse.
Die Studienautoren rieten zu einer sauberen Auslegeordnung. Die Seuchenbekämpfer im Bundesamt für Gesundheit sollte erfassen, wo es an Expertise mangelt und wo der Zugang zu externen Experten fehlt. Bei Lücken und Schwächen sollte sich die Behörde ein Dispositiv aufbauen, mittels dem sie sich in einer Krise rasch Zugang zu fachlichen Ressourcen verschaffen könnte. «Hierzu wären zum Beispiel geeignete Institutionen und Fachpersonen als Ansprechstellen zu bezeichnen.»
Setzte das BAG diese Empfehlung um? Angesichts dessen, dass der Bund mehrere Wochen verstreichen liess, bis er ein wissenschaftliches Gremium einberief, bestehen daran einige Zweifel. Eine Bitte um Stellungnahme liess das BAG am Montag und am Dienstag unbeantwortet.
Auch sonst liefert die Analyse einen ungeschminkten Blick. Wie weit sollen die Kompetenzen des Bundes im Krisenfall reichen? Die Kantonsvertreter attestierten dem BAG eine hohe Fachkompetenz, um bei einer Epidemie die Koordination zu übernehmen oder Empfehlungen zu formulieren. Danach gefragt, welche Erwartungen sie an den Bund haben, blieben sie allerdings vage. Wegen des hypothetischen Charakters dieser Frage sei es ihnen teilweise schwer gefallen, spezifische Erwartungen zu formulieren, konstatieren die Studienautoren.
Gleichzeitig gaben sich die BAG-Verantwortlichen selbst äusserst zurückhaltend bei der Frage, inwiefern sie Massnahmen anordnen würden. Vor zwei Jahren, als es bloss um eine Gefahr aus der Zukunft ging, schien vieles noch undenkbar. In Prä-Coronazeiten waren sich die Bundesbeamte «weiche Instrumente» gewohnt – Empfehlungen aussprechen, Rahmenbedingungen für den Vollzug vorgeben. Oder anders ausgedrückt: Die Gesundheitsbeamte wollten lieber beraten statt durchgreifen. Empfehlen statt verfügen.
Aus eigenen Mitteln könne das BAG keine Expertise generieren, die es im Normalfall nicht habe, steht in der Analyse ferner. In Bereichen, für die das BAG normalerweise nicht zuständig ist, fehle ihm die Erfahrung. Es könne so kaum beurteilen, welches die beste und für alle Kantone gleichermassen praktikable Lösung ist. Schulschliessungen oder Schutzmassnahmen etwa würde es deshalb wohl eher nicht verfügen.
Studienautor Christian Rüefli sagt auf Anfrage dieser Zeitung, in den Gesprächen mit den BAG-Verantwortlichen habe man den Respekt vor der Aufgabe gespürt: «Das BAG ist weit weg von Themen wie der Schule. Das erklärt seine Zurückhaltung, verbindliche Entscheide in solchen Bereichen zu fällen.» Hinzu komme, dass Massnahmen wie Schulschliessungen einen ganzen Rattenschwanz von Folgefragen mit sich ziehen, beispielsweise zur Kinderbetreuung oder zur Chancengleichheit.
Nichtsdestotrotz: Am 13. März dieses Jahres liess der Bundesrat sämtliche Schulen im Land für mehrere Wochen schliessen. Damit leitete er eine ganze Kaskade von Massnahmen gegen die Ausbreitung des Coronavirus ein.
Wie effektiv Schulschliessungen tatsächlich sind, ist in der Forschung freilich bis heute umstritten. Manche glauben, diese Massnahme sei eher politisch geprägt als wissenschaftlich abgestützt gewesen.
Gerade wenn sich die Forschung nicht einig ist, braucht es Menschen, die einen Entscheid fällen. Das hat der Bundesrat getan – zum Schutz der Bevölkerung.
Falls die Forschung irgendwann mal zum Konsens kommen würde, dass die Schulschliessungen unnötig gewesen wären, könnte man das als Entscheidungskriterium bei einer neuen Pandemie herbei ziehen.
Das Fachgruppen aus der Wissenschaft für Rat angefragt werden ist allgemein im Bundeshaus eine Seltenheit. Die andere Frage, wie stark haben sich diese Leute direkt bei den Bundesämter gemeldet und nicht via Medien sich bekannt gemacht.
Ein Satz von Berset ist mir hängengeblieben, mit der Schliessung der Schulen verhindere man das Illegale Handeln der Eltern welche die Kinder nicht mehr in Schule schicken.
Der Bund konnte gar nicht anders Handeln.....
Aber genau das wird im nun um die Ohren geschlagen, nicht wissenschaftlich, die folgen nicht bedacht, gesundheitlich unnötig.... vermutlich auch von den Eltern welche ihre Kinder nicht mehr in Schule schicken wollten.....