ruft ein Mann mit Lederjacke und Sonnenbrille neckisch, als er forschen Schrittes auf dem Holzweg im Schanzengraben an den beiden Sip-Mitarbeitern vorbeiläuft. Die Sozialarbeiter der Sicherheit, Intervention, Prävention, kurz Sip Züri, sind es sich gewohnt, angepöbelt zu werden. Es gehört zum Berufsrisiko.
Trotzdem stehen sie jeden Tag auf der Strasse und laufen neuralgische Punkte ab. Niemand kennt die Gassen der Stadt Zürich besser, niemand kennt die Obdachlosen, Drogensüchtigen, Hilfsbedürftigen der Stadt Zürich besser – eine Gruppe, die während der Coronakrise buchstäblich auf der Strecke blieb.
Sozialwerke wie jene von Pfarrer Sieber mussten ihre Gassencafés schliessen, der berühmte Pfuusbus im Albisgüetli ebenfalls. Provisorien wurden erbaut, Festzelte anstatt Pfuusbus, Essensgutscheine statt «Sunestube», Hilfsangebote in Selbstorganisation statt grosser Sozialwerke.
Mara Brügger, 28, die braunen Haare zu einem Rossschwanz gebunden, die Füsse in schwer aussehenden Gore-Tex-Wanderschuhe gepackt und Raoul Andres, 34, die Haare zu kurz für einen Rossschwanz, dafür mit stattlichem Schnauz und Dreitagebart, die Füsse in leichter anmutende Wanderhalbschuhe gehüllt, zählen diese vulnerablen Personen zu ihren «Klienten». Sie vermitteln Obdachlose an verschiedene Hilfsorganisationen, sprechen mit randalierenden Jugendlichen über ihren Alkohol- und Drogenkonsum und führen im Winter Kältepatrouillen durch.
Während der Coronakrise gar nicht so einfach.
Auch bei der Sip Züri galt: Die Ressourcen wurden auf die vitalen Leistungen reduziert. Konkret bedeutet das: Zeitweise war nur noch ein Duo unterwegs, anstatt der üblichen zwei bis drei Zweierteams. Trotzdem mussten regelmässiger als sonst Personen auf der Gasse aufgesucht werden, um zu schauen, ob sie erkrankt sind oder sonst etwas brauchen. Auch mussten häufiger als sonst Personen betreut werden, die in eine psychische Krise geraten sind und mit psychiatrischen Einrichtungen vernetzt werden mussten.
Mittlerweile konnte die Sip Züri aber wieder auf Normalbetrieb hochfahren und Andres und Brügger laufen heute, wie an vielen anderen Tagen auch, neuralgische Punkte in der Stadt ab. Von der Selnaustrasse geht es hinunter in den Schanzengraben, dem durchsichtig schimmernden Wasser entlang, am neckisch grüssenden Herrn vorbei.
Eine bunte Mischung aus Zürcher Boheme, Randständigen, Jugendlichen, die Gras rauchen und Angestellten, die ihre Pause in der Sonne am Wasser verbringen, verweilt hier unten. Eine Frau im farbigen Rock und Tanktop meditiert im Schneidersitz, wenige Meter weiter küsst sich ein Pärchen innig. Sie sind barfuss.
Der Schanzengraben, ein unauffälliger Konsumort. Schützte er früher die Stadt vor Eindringlingen, schützt er heute Drogensüchtige vor den eindringlichen Blicken der restlichen Bevölkerung.
Drogen sind ein omnipräsentes Thema bei der Sip Züri. Viele ihrer Klienten sind suchtkrank. Mit der Schliessung der Grenzen befürchteten diese, dass der Drogenhahn zugedreht wird. Doch der Markt regelt: Wo eine Nachfrage, da auch ein Angebot. «Es kam kurzfristig zu Preisschwankungen», sagt Raoul Andres, «die Preise haben sich jedoch wieder eingependelt.» Ein grösseres Problem sei die Beschaffung des Geldes für die Drogen gewesen. Aufgrund der Stay-at-Home-Devise hat sich das Betteln deutlich erschwert. Kam man trotzdem zu Geld und später zu Stoff, konnte man ihn in einem der Konsumräume der Stadt zu sich nehmen.
Vor solch einem stehen nun auch Andres und Brügger. Die Kontakt & Anlaufstelle Kaserne an der Militärstrasse bietet Süchtigen einen Ort, an dem sie geschützt und mit sauberen Utensilien konsumieren können. Vor dem Eingangstor steht Kevin Freuler, ein grosser, bulliger Mann, er trägt Schutzmaske, sein Handgelenk ziert ein Armband mit einem Alarmknopf. Immer wieder huschen Gestalten an Freuler vorbei, einige grüssen und halten einen kurzen Schwatz, andere stürmen regelrecht durch das Tor. Freuler zählt die Leute, die zum geschützten Konsumieren gekommen sind. 60 dürfen es sein. So sieht es das Schutzkonzept vor.
Gleich auf der anderen Strassenseite, quasi ein Stockwerk höher im Hochhaus der sozialen Schichten, gleiten drei Dosen schwarze Bohnen und eine Dose eingelegte Ananas dem leicht klebrigen, leise surrenden Kassenband entlang.
sagt eine Frau um die vierzig und kramt in ihrem Portmonnaie. Sie trägt eine grosse Sonnenbrille, silbrig schimmernde Flanellhosen und eine Vielzahl an sehr langen Schals.
Auch hier, im Caritas-Laden, gibt es ein Schutzkonzept. Zwei Meter hinter der kapriziösen Dame wartet Beni, seine Tochter Nola auf dem Arm, darauf, seinen Einkauf bezahlen zu können.
Beni ist 40 Jahre alt, er stammt aus Basel und wohnt «schon ewig in Zürich». Er ist Schauspieler. Eigentlich. Momentan hofft er, bald wieder Schauspieler zu sein. Denn seit die Theater des Landes ihre Pforten schlossen, ist Beni arbeitslos. Und obwohl die Pforten unlängst wieder offen sind, ist er immer noch arbeitslos.
sagt Beni. Hätte seine Frau keinen Job, dann würde es düster aussehen. Finanziell kommen sie gerade noch über die Runden, die stark vergünstigten Lebensmittel in den Caritas-Läden helfen enorm.
Hunderte Einkaufskarten hat die Caritas während der Coronakrise ausgeteilt. 780'000 Menschen sind von Kurzarbeit betroffen und müssen dementsprechend ein um 20 Prozent tieferes Einkommen in Kauf nehmen. In der Schweiz leben laut Angaben der Caritas zudem 660'000 Armutsbetroffene, weiter leben eine halbe Million Menschen knapp über der Armutsgrenze. «In einer solchen Situation kann es fatal sein, wenn das Einkommen nur um ein paar Hundert Franken sinkt», sagt Stefan Gribi, Pressesprecher der Caritas Schweiz.
Mit den sinkenden Einkommen stiegen die Anfragen für Sozialberatungen bei der Caritas sprunghaft an. Zudem hat die Hilfsorganisation seit März rund 6000 Mal Überbrückungshilfe geleistet, mit Beiträgen bis zu 1000 Franken.
In der Sozialhilfe selbst gibt es seit Ausbruch der Krise 8000 Neuanmeldungen, die Schweizerische Konferenz für Sozialhilfe SKOS schätzt, dass in den nächsten anderthalb Jahren 50'000 bis 90'000 Personen in die Sozialhilfe geraten.
Beni B. will dies unbedingt vermeiden. Er ist bereits im Gespräch für neue Theaterprojekte, langsam sieht der 40-Jährige wieder Licht am Ende des Tunnels. Er schnappt sich Töchterchen Nola und die XXL-Packung eingekaufter Windeln und zieht über das Kasernenareal von dannen.
Auch die beiden Konfliktvermittler der Sip Züri laufen über die Wiese des Kasernenareals. «Unsere Klienten sind ziemlich gut über das Coronavirus informiert», meint Brügger. Viele seien übervorsichtig, gar ein bisschen panisch, tragen Masken und waschen sich die Hände so oft wie möglich. Niemand will sich in der Gasse mit dem Virus infizieren, zu gross die Unsicherheit über die eigenen Vorerkrankungen.
Brügger und Andres müssen ebenfalls stets darauf achten, ihren Klienten nicht zu nahe zu kommen. Das verlangt mitunter künstlerisch anmutende Taktiken. Als die beiden Richtung Militärstrasse laufen, entdecken sie zwei Klienten, die gerade konsumiert haben. Einer der beiden scheint Probleme auf dem hölzernen WC-Häuschen zu haben, der Kollege will die besorgten Sip-Arbeiter beruhigen. Er kommt Andres mit jedem Satz ein bisschen näher, Andres weicht mit jedem Satz einen Schritt zurück. Dann ein Schritt nach rechts. Dann ein Schritt nach links. Andres tanzt den Corona-Walzer des Abstands, bis sich die Lage beruhigt.
An der Langstrasse angekommen, ist diese bereits gut besucht. Wie sie oft auf der Partymeile Zürichs, könnte das Klientel unterschiedlicher nicht sein: Vor dem Hiltl halten orange-weiss leuchtende Pylonen hunderte Prostituierte, Obdachlose, Bedürftige und Dorgensüchtige in Reih und Glied. Alle warten sie auf ein Essenspaket von Schwester Ariane und ihrem Verein «Incontro».
Gleichzeitig frönen erste Gruppen junger Leute auf der Piazza Cella dem Wochenendanfang. Laute Musik ertönt aus einer scheinbaren Myriade an portablen Lautsprechern, Latino- und Shishabars. Kastenwägen der Polizei kurven durch die engen Gassen, alle sich darin befindenden Beamten beobachten mit strengem Blick die Lage.
Im Gassencafé Sunestube vom Pfarrer Sieber, das nach zweimonatiger Pause gerade wieder öffnete, sitzt ganz gemütlich ein älterer Herr mit Wanderausrüstung, Kaffee und dem heutigen Kreuzworträtsel auf dem Tisch.
ruft Karl aufgebracht. Sein buschiger, weisser Schnurrbart wallt in Symbiose mit seiner steigenden Empörung. Der Österreicher aus der Nähe von Linz, seit 10 Jahren in der Schweiz, seit 5 Jahren obdachlos, ärgert sich immer wieder über die Corona-Skeptiker.
Er ist fast gestorben, Anfang März im Spital Triemli. Zuerst dachte er, es sei nur eine Erkältung. Im Pfuusbus vom Sozialwerk Pfarrer Sieber kann es eng werden, da geht schnell mal was rum. Einmal angehustet «und dann hat man den Salat.» Karl aber glaubt an ein universelles Gleichgewicht, an Geben und Nehmen, also teilt er seine Dinge. Kommt in Kontakt mit anderen Leuten. Doch bald wurde es schlimmer, er ging ins Spital im Triemli – und wurde weggeschickt.
sagt Karl. Er zieht das Ladekabel aus seinem Smartphone, die Powerbank ist leer. Er kramt in seinem Wanderrucksack und zieht eine zweite Powerbank heraus. Mit seiner rot-gelben Windjacke und den khakifarbenen Trekkinghosen wirkt der vierschrötige Österreicher wie ein typischer Wandersenior, der sich im hochverdienten Rentenalter den schönen Seiten des Lebens zuwendet und sich zum Unmut der arbeitenden Bevölkerung um 07:30 Uhr mit Sack und Pack und Wanderstöcken in den vollgestopften Zug quetscht.
Karl ist zwar kein Wandersenior, wohl aber Überlebenskünstler. Er fährt auch nicht Zug, sondern Fahrrad. Seit fünf Jahren lebt er in einem Wald am Stadtrand. Wo genau, will er nicht verraten:
Doch als sein Zustand sich weiter verschlechterte, musste er zum ersten Mal in fünf Jahren in einem neuen Bett schlafen. Zwei Wochen lag er im Spital, schrammte nur hauchdünn am Beatmungsgerät vorbei. Das habe er seinem gesunden Lebensstil zu verdanken, meint Karl.
Und doch konnte er danach nicht einfach Zuhause bleiben, wie es die Plakate des BAG, die Zeitungen, die Radio- und Fernsehsendungen unisono forderten. Also ging er ins Fachspital «Sune-Egge» von Pfarrer Sieber, dort wurde er wieder aufgepäppelt.
Karl nimmt den letzten Schluck seines Kaffees. Von Dienstag bis Samstag sitzt er in der «Sunestube», er kriegt eine warme Mahlzeit und Gesellschaft. Die randlose Lesebrille hat er auf seinen kahlen Kopf geschoben, das Kreuzworträtsel aus der Gratiszeitung ist gelöst.
Marihuana-Schwaden liegen in der Luft, ein beissender Citrus-Geruch strömt über die Bäckeranlage in Zürich.
fragt ein kleiner Mann mit einem grossen Joint in der Hand. Er trägt Sandalen, dunkle Cordhosen, die beim Laufen über den Boden schleifen und ein Polohemd. Seine Halbglatze lässt vermuten, dass er sich bereits in einem Alter befindet, in dem andere sich Midlife-Crisis-bedingt eine Harley kaufen. Er jedoch hört Trap-Musik und muss beinahe schreien, um das plärrende, Autotune-geschwängerte Gemurmel aus den portablen Boxen zu übertönen.
Raoul Andres und Mara Brügger bleiben stehen und schauen sich den kleinen Mann an. Er grinst, legt seine Hand aufs Herz.
sagt Andres, grinst ebenfalls und läuft weiter.
Und danke, dass dieses Thema auch mal thematisiert wurde.
Das haben wir auch in Chur, eine der grössten (noch) offenen Drogenszenen der Schweiz festgestellt, wo wir während des Lockdowns mit Betroffenen und verschiedenen Institutionen gesprochen haben. Daraus ist die Reportage «Corona uf de Gass» entstanden: https://vimeo.com/427528203