Der Sexualkundeunterricht an der Volksschule ist ein heisses Eisen. Immer wieder entbrennt Streit darum, was Kindern und Jugendlichen an der Schule zum Thema Liebe und Sexualität beigebracht werden soll. Wie weit untersteht Aufklärungsarbeit den Erziehungsberechtigten? Was gehört zum Bildungsauftrag der Schule?
Der Lehrplan 21 umreisst die Fragen, die mit den Schülerinnen und Schülern durchgearbeitet werden müssen, relativ genau. «Sexualkundlicher Unterricht» soll in den Fächern Natur, Mensch und Umwelt sowie in der Ethik und Religion stattfinden. Über Körperfunktionen und Fortpflanzung muss gesprochen werden, aber auch über Verhütung vor ungewollter Schwangerschaft und Schutz vor Geschlechtskrankheiten. Auf der Sekundarstufe sollen die Jugendlichen über Themen wie Geschlechterrollen, sexuelle Orientierung, Diskriminierung und Verantwortung in Beziehungen reflektieren können.
Die Lehrpersonen sind zwar an diese Vorgaben des Lehrplans gebunden, haben aber bei der Ausgestaltung des Unterrichts viele Freiheiten. Zur Unterstützung können sie auch Externe beiziehen. Diesbezüglich hat sich beim Sexualkundeunterricht in den letzten Jahren eine Routine eingestellt: Anstatt selbst mit ihren Schülerinnen und Schülern über das Thema Sexualität zu sprechen, wenden sich Lehrpersonen lieber an sexualpädagogische Fachstellen. Solche gibt es inzwischen in fast allen Kantonen.
Unter den Anbietern finden sich auch streng religiöse Organisationen. Pikant ist: Die Aufmachung, der Auftritt im Netz und die Inhalte solcher Gruppen kommen vermeintlich moderat und aufgeklärt daher. Dass hinter dem Engagement eine religiöse Überzeugung mit konservativen Ansichten steckt, ist erst auf den zweiten Blick erkennbar.
Eine der grössten und bekanntesten solcher religiösen Fachstellen ist das Schweizerische Weisse Kreuz (SWK). Der Verein bietet «Information und Orientierung für Kinder, Jugendliche und Erwachsene». Laut eigenen Angaben hat das SWK im vergangenen Jahr 593 Schülerinnen und Schülern ihre Fragen zu Beziehungen und Sexualität beantwortet und 73 Einsätze in Schweizer Schulen und Kirchen geleistet. Für das Jahr 2022 erhielt der Verein einen Grossauftrag an einer Primarschule im Kanton Aargau für 20 Einsätze in 35 Schulklassen.
Das Weisse Kreuz bezeichnet sich als politisch und konfessionell unabhängig. Auch bei der Beschreibung seines Bildungsangebots an Schulen wird der religiöse Hintergrund des Vereins nicht deutlich. Laut einer Übersicht werden sexuelle Gesundheit, Safer Sex oder Verantwortung in der Sexualität thematisiert. Einen Hinweis auf die religiöse Gesinnung gibt einzig die Anmerkung auf der Homepage, dass der Verein nach christlichen Grundwerten arbeite.
Doch die 130-jährige Geschichte des SWK sowie auch die Einschätzung von Experten ist eine andere. Susanne Schaaf, die Geschäftsleiterin von Infosekta, sagt: «Wenn das Weisse Kreuz von christlichen Werten spricht, meint es christlich-evangelikale Werte. Es ist Mitglied der Schweizerischen Evangelischen Allianz, einem Zusammenschluss von mehrheitlich Freikirchen. Somit teilt es die Glaubensbasis mit der Bibel als höchste Autorität in sämtlichen Glaubens- und Lebensfragen.» Früher habe das SWK auf den Verein Wüstenstrom verlinkt, der verspricht, Homosexuelle im Rahmen einer Konversionstherapie umzupolen. Ebenfalls bis vor wenigen Jahren betrieb das Weisse Kreuz die Organisation LEA Schweiz, die Beratungen für schwangere Frauen anbot und sich kritisch gegenüber Abtreibungen positionierte.
Offenkundig zeigt sich die evangelikale Haltung des Vereins in den Aussagen des Geschäftsführers Jonathan Eschmann. So sagt er gegenüber «jesus.ch», die Sexualität solle in einer echten, ehrlichen und vertrauten Liebe verwurzelt sein. Dies werde durch Prävention und Beratung gefördert. «Wir wollen das Positive und Schützenswerte der Sexualität hervorheben, gleichzeitig Treue betonen und Familien stärken.» Eschmann ist seit 2019 Geschäftsleiter vom Weissen Kreuz und war in den letzten Jahren als Jugendpastor im ICF tätig. Mit seiner Frau gründete er dieses Jahr eine eigene Freikirche in Aarau.
Freikirchler, die an Regelschulen Sexualkunde unterrichten – geht das? «Die Gefahr besteht, dass den Schülerinnen und Schülern eine sehr heteronormative Sicht auf die Sexualität vermittelt wird», sagt Katja Hochstrasser. Sie ist Sexualpä-dagogin und Teamleiterin der Fachstelle Spiz in Zürich. Das Weisse Kreuz etwa spreche explizit von «Männern» und «Frauen» und bezeichne Homosexualität oder sexuelle Lust als «brisante Themen».
Im Frühling dieses Jahres beteiligte sich das Weisse Kreuz an der Kampagne «30 Tage pornofrei». Geschäftsleiter Eschmann sagte, dadurch sollten Menschen Hilfe empfangen und die Ernsthaftigkeit ihres Problems erkennen können. Er sei überzeugt, dass ein Leben ohne Pornokonsum möglich sei. Auch solche Aktionen hält Hochstrasser für problematisch. «Die Steigerung von sexueller Lust durch Pornografie gehört zur Sexualität und soll nicht verteufelt werden.» Wichtig sei aber, Kindern und Jugendlichen den richtigen Umgang mit Pornografie zu lehren und Grenzen aufzuzeigen.
Der SWK-Geschäftsführer Eschmann sagt es so: «Wir sind unterwegs für die Liebe. Beziehungen und die Sexualität sind Teil davon.» Die Motivation für sein Engagement sei die Präventionsarbeit. «It's better to teach young boys, than to repair old men», sagt er. Also im Sinne von: Besser früh Schadensvorbeugung als später Schadensbehebung betreiben. Die christlichen Grundwerte des Vereins findet er unproblematisch: «Die Werte, nach denen wir uns gemäss Leitbild richten, sind für alle Menschen wichtig – unabhängig davon, welcher Religionsgruppe jemand angehört. Damit könnten sich auch Atheisten identifizieren.»
Von Organisationen, die Konversionstherapien anbieten, distanziert sich Eschmann. «Unseren Verein gibt es seit 130 Jahren. Da ist klar, dass man sich weiterentwickelt und gewisse Positionen heute nicht mehr adäquat sind», sagt er. «Heute sind wir unter anderem eine sexualpädagogische Fachstelle, wie viele andere auch. Unsere Sexualpädagogen haben eine entsprechende Ausbildung mit staatlich anerkanntem Fachtitel absolviert.» Der Auftrag an den Schulen sei kein evangelikaler, missionarischer, sondern ein sexualpädagogischer. Dabei richte man sich nach dem Lehrplan 21.
Michael Ganz ist Sexualpädagoge und Geschäftsleiter von Sexuelle Gesundheit Aargau. Er besucht selber Schulen im Kanton, kennt das Weisse Kreuz aber vor allem aus dessen Newsletter und dem Jahresbericht. Der Verein habe einen «stark religiösen Hintergrund», sagt Ganz. Das werde sofort klar, wenn man dessen Publikationen durchlese. «So will der Verein etwa die Frau-Mann-Beziehung stärken», erzählt Ganz. «Dies unterscheidet sich stark von unserem Auftrag.» Sexuelle Gesundheit Aargau unterstütze alle Personen – unabhängig von ihrer sexuellen Ausrichtung oder ihrem Beziehungsstatus.
Was genau die Sexualpädagogen des Weissen Kreuzes an den Schulen vermitteln würden, könne er nicht sagen, so Ganz. Die Verantwortung liege bei den Schulleitungen, die genau überprüfen müssten, welchen Verein sie für die Sexualkunde buchen. «Allerdings haben viele Lehrpersonen ebenfalls einen freikirchlichen Hintergrund, weshalb Vereine wie das Weisse Kreuz dann auch Aufträge bekommen.»
Eine weitere religiöse Gruppe mit sexualpädagogischem Bildungsauftrag ist Teenstar Schweiz. Der Verein vertritt ultrakonservative Positionen und bietet Kurse für Jugendliche und «Ausbildungen» für Erwachsene an. In sechstägigen Seminaren wird laut dem Verein die «Fachkompetenz Erwachsener in der Sexualthematik erweitert».
Auf seiner Website wirbt der Verein mit dem Testimonial eines 45-jährigen Lehrers. «Der Teenstar-Kurs war für meine Klasse ein echter Mehrwert», lässt er sich zitieren.
Für welche Grundsätze und pädagogischen Inhalte Teenstar Schweiz steht, lässt sich in der Broschüre «Sex & Sieben» nachlesen, die watson vorliegt. Das 62-seitige Heft wurde bis vor Kurzem aktiv auf der Webseite des Vereins empfohlen. Verantwortlich für die Schweizer Herausgabe ist ein Ehepaar, das bei Teenstar aktiv ist. Sie ist Lehrerin, er Theologe und Pfarreiseelsorger.
In der Broschüre wird die Liebe konsequent als etwas beschrieben, das nur zwischen «Mann und Frau» zustande kommen kann. Über Homosexualität solle man sich «nicht zu viele Gedanken» machen und vor Abtreibungen wird nachdrücklich gewarnt. Nachfolgend einige Auszüge aus «Sex & Sieben»:
Um Teenstar gab es im Jahr 2018 in Österreich eine Kontroverse. Der Zeitung «Falter» wurden geheime Schulungsunterlagen zugespielt, mit denen Teenstar in seinen Seminaren arbeitet. Nachdem die Inhalte publik wurden, wurde der Ruf laut, dass der Verein nicht mehr an Schulen unterrichten darf. Das Bildungsministerium versprach danach ein Akkreditierungsverfahren für sexualpädagogische Programme. Bis heute ist dieses aber nicht umgesetzt und Teenstar ist weiterhin an österreichischen Schulen tätig.
Die Kursunterlagen von Teenstar wurden auch Sexuelle Gesundheit Schweiz (SGS) zugespielt, eine Partnerorganisation des Bundesamts für Gesundheit. Das Verdikt von SGS ist vernichtend. In einer Nachricht an Medienschaffende schrieb die Organisation im Jahr 2020: «Kinder und Jugendliche haben das Recht auf ganzheitliche Sexualaufklärung. Teenstar unterläuft jedoch dieses Recht mit konservativem Fundamentalismus. Dies äussert sich dadurch, dass ‹Homosexualität als therapierbar› dargestellt und ‹kein Sex vor der Ehe› propagiert wird. Aus Sicht von Sexuelle Gesundheit Schweiz sind dies bedenkliche und manipulative Inhalte.»
watson hat Teenstar Schweiz kontaktiert und gefragt, ob die geleakten Kursunterlagen mittlerweile überarbeitet wurden. Der Verein teilte telefonisch mit, dass man diese Unterlagen in der Schweiz nie gebraucht habe. Dies, obschon in den Kursunterlagen steht, dass diese ein Gemeinschaftsprojekt der Ableger aus Deutschland, Österreich und der Schweiz seien. Im Impressum der Kursunterlagen, das watson vorliegt, ist zudem die Präsidentin von Teenstar Schweiz aufgeführt.
Unklar bleibt, wie viele Lehrerinnen und Lehrer Teenstar Schweiz jedes Jahr ausbildet. Eine Anfrage per E-Mail blieb unbeantwortet. Einsicht in die Kursunterlagen wollte Teenstar Schweiz watson nicht geben.
Die Sexualpädagogin Katja Hochstrasser von der Fachstelle Spiz in Zürich sagt: «Das Problem bei diesen Angeboten ist nicht der religiöse Hintergrund der Fachpersonen. Sondern dass sie von Schulen eingeladen werden und dort erzählen können, was sie wollen – ohne dass das jemand kontrolliert.» Der Sexualkundeunterricht dieser religiösen Vereine sei eine Blackbox. «Zumindest jene Bildungsstätten, die Fachtitel im Bereich der Sexualpädagogik herausgeben, müssten überprüfen, ob ihre Abgänger auch tatsächlich nach den beigebrachten Standards unterrichten», so Hochstrasser.
Bisher fehlt ein solches Monitoring aber gänzlich.
Es gibt aber halt etliche LP die sich unsicher fühlen mit der Vermittlung davon. Die Jugendlichten könnten ja unbequeme Fragen stellen 😉 (Das tun sie aber nur, wenn sie sich ernstgenommen fühlen und das tun sie von unsicheren Lehrern eher selten.)
Die religiösen Fanatiker gehören mit aller Kraft in die Schranken gewiesen. Man sollte beginnen darüber nachzudenken, welche Religionsfreiheit wir wollen. Jede Sekte versteckt sich hinter diesem Begriff!