Philipp Höhener glaubte sein halbes Leben lang an etwas, das er heute mit Vehemenz ablehnt. Er kannte es nicht anders, seine Grosseltern väterlicherseits und die Eltern, seine Schwester und die Freunde; sie alle waren Teil dessen, das er nie auch nur anzuzweifeln gewagt hätte. Bis zu diesem einen Tag, dem 11. April 2012 – das Datum hat sich ihm ins Gedächtnis gebrannt – als sein Leben und seine Glaubensgrundsätze begannen, wie ein Kartenhaus in sich zusammen zu fallen und er den Boden unter den Füssen verlor.
Höhener war Mitglied der Freikirche der Siebten-Tags-Adventisten. Die Gemeinschaft gründete sich in den 1860er-Jahren in den USA und hat heute weltweit über 20 Millionen Mitglieder. Im adventistischen Glauben werden die Dreieinigkeit Gottes, die Schöpfung an sieben Tagen, das Halten des biblisch-jüdischen Ruhetags Sabbat, der Glaube an die prophetische Gabe von Ellen G. White, der Tod und die Auferstehung von Jesus und dessen reale Wiederkunft auf die Erde gelehrt. Erlösung erfährt man allein durch den starken Glauben an Christus und dem Einhalten aller zehn Gebote, inklusive dem Sabbatgebot.
Bei den Höheners waren die Praktiken und Erziehungsmethoden der Adventisten Teil des Alltags. Dazu gehörte das frühe Aufstehen vor der Schule, um Andacht zu halten. Dazu gehörten Zeltversammlungen in Deutschland und Holland, während andere ans Meer fuhren. Dazu gehörte, dass Höhener in einer Phase seiner Kindheit nicht mit ungläubigen Kindern spielen durfte, weil seine Eltern deren weltliche Einflussnahme befürchteten. Dazu gehörte das ständige schlechte Gewissen, zu wenig gebetet zu haben, die Angst, etwas Unartiges gedacht zu haben, die Panik, von Jesus verstossen zu werden. «Ich war massivem religiösen Druck ausgesetzt», sagt Höhener.
Als Sechsjähriger merkte Höhener zum ersten Mal, dass seine Familie anders ist. «Wir waren isoliert», sagt er. Ausser zu seinen Schulkollegen hatte er keinen Kontakt zu «Ungläubigen». Am Samstag musste Höhener nicht zur Schule, die Eltern sorgten mit einem Gesuch dafür, dass er am wichtigen Sabbat-Gottesdienst ja nicht fehlte. Er wurde gefoppt als der «seltsame Frömmler».
Tat Höhener nicht so, wie von ihm verlangt, sagte der Vater: «Bravo, jetzt klatscht der Teufel in die Hände.» Wollte er mit anderen Kindern an Sommerabenden am Samstag Fussball spielen, mahnte die Mutter: «Es ist deine Entscheidung, Philipp, aber du weisst selbst, was das Richtige ist.» Die Drohung mit dem Teufel und dem Verlust des «Ewigen Lebens» war ein effizientes Mittel, um bei den Kindern Angst zu schüren und sie zu manipulieren, wenn auch unbewusst.
Während der Ausbildung zum Krankenpfleger kam Höhener erstmals in Kontakt mit «weltlichen» Jugendlichen. Er ging in den Ausgang, trank ab und zu Alkohol, rauchte ein paar Zigaretten – doch immer mit einem schlechten Gewissen, das ihn beinahe in den Wahnsinn trieb. Er war 19 Jahre alt, als er sich in eine «Ungläubige» verliebte. Nachdem er seinen Eltern von der neuen Freundin erzählte, sei es schlimm gewesen zu Hause, sagt Höhener. «In der Gemeinde beteten sie für mich und dass ich mich von meiner Freundin trennen möge.»
Er entfernte sich in dieser Zeit, zumindest innerlich, von Gott, der Gemeinde und der Familie. Seinen Glauben hinterfragte er damals jedoch nie ernsthaft. Denn kritische Fragen und abtrünnige Gedanken sind in vielen Freikirchen ein Tabu. Anstatt verunsicherten Mitgliedern zuzuhören, sich mit ihren Zweifeln zu befassen, wird in evangelikalen Kreisen eher subtil Druck ausgeübt, um sie wieder auf den vermeintlich richtigen Weg zu bringen.
Unabhängige Untersuchungen zum Austritt aus Freikirchen existieren kaum. Vor kurzem hat die evangelikale Ausbildungsstätte «Institut für Gemeindebau und Weltmission» eine Studie veröffentlicht, in der untersucht wurde, aus welchen Gründen Mitglieder eine Freikirche verlassen. Unter dem Titel «Ich bin weg» befragte der evangelikale Pastor Oliver Rüegger knapp 300 Personen.
Die Interviewten gaben vor allem an, dass sie sich moralisch eingeengt und unter Druck gesetzt gefühlt hätten und dass immer stärkere Zweifel am Glauben aufgekommen seien. In seiner Studie kommt Rüegger zum Schluss, in Freikirchen brauche es mehr Raum für kritische Fragen. Er schreibt, ein Pastor müsse auch Anlaufstelle für Zweifel sein.
Bei Höhener fehlte diese Anlaufstelle. Er war innerlich zerrissen. Nach einem Jugendleiterweekend entschied er sich bewusst, sein sündhaftes Leben zu ändern und zu Gott, der Gemeinde und der Familie zurückzukehren. Er brach die Beziehung zur Freundin ab und wollte sich nun ganz seinem Glauben widmen. Höhener leistete einen Hilfseinsatz in Togo, begleitete den Gottesdienst am Klavier, leitete die Jugendgruppe und liess sich taufen. Seine Mutter war glücklich. Sie sagte ihm: «Nun kann ich beruhigt sterben.»
Dann kam eben dieser Mittwoch, 11. April 2012. Eine gute Freundin aus der Freikirche machte Höhener auf ein Video aufmerksam, in dem die Siebten-Tags-Adventisten massiv kritisiert wurden. Obwohl er bis dahin solche Vorwürfe an seine Glaubensgrundsätze nicht zugelassen hatte, war Höhener wie elektrisiert von dem, was er im Video sah.
In den darauffolgenden Tagen recherchierte er wie ein Besessener. «Mein Ziel war eigentlich, diese Kritik an den Adventisten zu entkräften», sagt er. Doch je tiefer er grub, umso mehr veränderte sich sein Bild auf seine Freikirche. Zweieinhalb Wochen später war er völlig schockiert. Der Gott, den er so liebte und der ihm so nah war, stellte sich ihm als bösartiger, rachsüchtiger Gott heraus. Wie hatte er so blind sein können?
Zusammen mit der Freundin, die ihn auf das Video aufmerksam gemacht hatte, trat Höhener aus der Kirche aus. Erleichternd sei das gewesen und gleichzeitig ein Fall ins Bodenlose. «Es fühlte sich an wie ein Zug, der entgleist ist und wieder zurück auf die Schienen gebracht werden musste. Nur waren die Schienen gar nicht mehr da», sagt er.
Heute ist Höhener 39 Jahre alt, verheiratet, Vater zweier Kinder, wohnhaft in der Umgebung von Thun und steht wieder mitten im Leben. Seine Eltern und die Schwester sieht er ab und zu, spricht mit ihnen aber nicht über Religion. Zu seiner ehemaligen örtlichen Gemeinde hat Höhener keinen Kontakt mehr. Es gibt wenige Adventisten, welche sich vor allem über Social Media mit ihm austauschen und ganz wenige, welche ihn auch zu Hause besucht haben. Viele ehemalige Freunde scheinen aber nichts mehr mit ihm zu tun haben zu wollen. Auch seine damals besten Freunde haben die Beziehung zu ihm abgebrochen.
Die ersten 34 Jahre seines Lebens haben bei Höhener Narben hinterlassen, die inzwischen zwar verheilt sind, aber ab und zu noch immer ein wenig schmerzen. Manchmal denkt er, die Freikirche hat ihm seine Kindheit und Jugend geklaut. Doch ändern würde er an seinem Leben trotzdem nichts. «Ich bin, was ich bin und habe erlebt, was ich erlebt habe. Und das ist heute gut so.»