Frauen wie Elena Heydemann stellt man sich Champagner trinkend in St.Moritz vor. Sie öffnet die Tür ihrer Vierzimmerwohnung im Zürcher Enge-Quartier: Sommerkleid mit Leopardenmuster, platinblondes Haar, Eyeliner um die eisblauen Augen.
Mit federndem Gang führt sie ins Wohnzimmer. Die Wände sind zugepflastert mit selbst gemalten Acrylgemälden. Elena beim Tango tanzen, Elena am Strand, Elena im Weinkeller. Über dem rot-samtenen Sofa thront ein Bild, das die Russin als Dame auf einem Schachbrett zeigt. Mit erhabenem Blick schaut sie auf ihre Gäste herunter. Elena als Frau ohne Selbstzweifel. Die stärkste Figur des Spiels.
Bis vor sieben Monaten hätte sie dieser Beschreibung zugestimmt. Doch als sie am 24. Februar die Bilder der ersten Explosionen in Charkiw sah, änderte sich Elenas Leben auf einen Schlag. In ihrer Brust breitete sich Panik aus. Ihr Magen fühlte sich an, als hätte jemand einen Seemannsknoten in ihre Gedärme geknüpft. «Es war, als sei jemand gestorben, der mir nahesteht.»
Später fand sie heraus: Es war ein Teil ihrer selbst, der gestorben war.
Elena war einst stolz auf ihre Herkunft. Auf die Kultur und die russische Seele, deren Mitgefühl und Offenheit. Zwar kehrte sie ihrem Heimatland nach dem Fall der Sowjetunion den Rücken, lebte 20 Jahre lang in Deutschland und seit 2012 in der Schweiz. «Aber es stand nie zur Debatte, wer ich bin.» Bis zu jenem Tag im Februar. «Plötzlich wurden in meinem Namen Kriegsverbrechen begangen, Städte zerstört und Kinder getötet.»
Anruf bei Anna Fenko, Professorin für Sozialwissenschaften an der Universität Amsterdam und selbst Exil-Russin. Sie sitzt in ihrem Büro, die Wände sind weiss, Stuhl und Drucker auch. Sie sagt, so wie Elena gehe es gerade vielen Russinnen und Russen. «Der Krieg zerstört die nationale Identität von Millionen von Russen.» Was Elena gerade durchmache, bezeichnet Fenko als Identitätsdiffusion.
«Als Schweizer kann man sich das so vorstellen: Anstatt dass man im Ausland immer mit den gängigen Klischees über Käse, Geld und Schokolade konfrontiert wird, denken die Menschen sofort an Krieg, Mord und Gräueltaten.» Niemand werde gerne mit Kriegsverbrechen und Vergewaltiger in Verbindung gebracht. Doch damit müssten alle Russen momentan leben. Ob sie für oder gegen den Krieg seien. Denn: «Seine Herkunft kann man nicht ändern. Der Geburtsort wird für immer Teil einer Identität bleiben», sagt Fenko.
Elena tupft sich mit einem perfekt manikürten Zeigefinger behutsam eine Träne von der Wange. «Manchmal hatte ich das Gefühl, das Schuldgefühl erdrückt mich.»
Sie war in einer mentalen Sippenhaft gefangen. Um daraus auszubrechen, musste sie sich selbst beweisen, dass sie mit dem Russland von heute nichts mehr zu tun hat.
Wie Menschen mit Angriffen auf ihre Identität umgehen, variiere von Fall zu Fall. Die Kriegsbefürworter redeten sich ein, dass der Krieg notwendig sei. «Russland ist in ihren Augen der Held der Geschichte, im einsamen Kampf gegen das Böse», sagt Anna Fenko.
Das Böse: Ein Nazi-Teilstaat, kontrolliert von einem Marionettenregime. Unterstützt vom mächtigen und heimtückischen Westen. Gestärkt durch die vom Volk verhassten Werte Liberalismus, Feminismus und sexuelle Freiheit.
Andere Russen – vorwiegend jene, die Zugang zu unabhängigen Informationen haben – können sich nicht mit dieser neuen Realität identifizieren. Sie schlittern in eine Identitätskrise. Handlungen, Entscheidungen und Ansichten einer Person werden nicht mehr von stabilen Vorstellungen über sich selbst bestimmt. Sondern von äusseren, zufälligen Umständen.
Ausgelöst werde diese Identitätskrise von einem psychologischen Trauma infolge erfahrener Gewalt. «Der Krieg bedroht die physische Existenz der meisten Russen zwar nicht. Aber für viele wird er als Gewalt gegen alles erlebt, was ihnen lieb und teuer ist», sagt Fenko. «Der einzige Ausweg für viele Russen liegt darin, aktiv gegen den Verlust ihrer Identität anzukämpfen.»
Ende Februar meldete sich Elena beim Zürcher Asylzentrum. Sie übersetzte und füllte Dokumente für Hunderte von Geflüchteten aus. «Ich versuchte, allen das Gefühl zu geben, jetzt in Sicherheit zu sein.» Sie hörte den schrecklichen Geschichten zu. Und ertrug es kaum.
Elena wollte helfen, doch nicht nur aus Nächstenliebe. Sondern auch aus Eigennutz. Sie suchte nach einer Ausfahrt auf einer Autobahn, die nur eine Richtung kennt: mentaler Zusammenbruch.
Doch sie fand die Ausfahrt nicht. Im Gegenteil. Der Krieg nistete sich in jeder Zelle ihres Gehirns ein. Ihr Kopf fühlte sich an wie ein Dampfkochtopf, der zu explodieren drohte. «Ich sass in jeder freien Minute am Computer und las Beiträge russlandkritischer Journalisten.» Sie wurde auf Facebook aktiv, postete jeden Tag dutzende Videos und Artikel.
Erst die Erkenntnis, mit ihrem Leiden nicht allein zu sein, vermochte ihr zu helfen.
Elena zeigt auf ihren Balkon. Am Geländer weht eine weiss-blau-weisse Flagge im Wind. Sie ist das Protestsymbol der Gruppe «Russland der Zukunft». Eine Variation der russischen Nationalflagge, jedoch ohne den roten Streifen. Sie symbolisiert die Hoffnung auf ein freies, demokratisches Russland.
Ende März entdeckte Elena den Verein auf Facebook. «Wir sind alle Russlandschweizer. Uns verbindet ein Gefühl der Entfremdung und Wut», sagt sie. Jeden Mittwoch trifft sich die Gruppe auf der Rathausbrücke in Zürich, um gegen den Krieg zu demonstrieren. «Alle liegen sich in den Armen, weinen und schreien sich gemeinsam den Frust von der Seele.»
Der Schmerz und die Verbitterung anderer Russen wirkte wie ein Ventil für ihr eigenes, erdrückendes Schuldgefühl. Ihr wurde klar: Sie ist nicht allein. Dass auch andere diese Entfremdung durchmachen, gab ihr Kraft und eine neue Sichtweise ihrer selbst. «Ich bin immer noch Russin, ich mag Tschechow und Bunin und werde an Silvester Hering im Pelzmantel essen. Doch der russische Staat und das russische Volk: Sie sind nicht dasselbe.»
Auch Anna Fenko kennt die russischen Protestgruppen. Sie sind in ganz Europa aktiv. In den weiss-blau-weissen Flaggen erkennt Fenko eine psychologische Kurzschlussreaktion. «Sie grenzen sich aktiv gegen die ‹bösen Russen› ab. Doch wer sind die bösen Russen? Jene, die in Russland leben ohne Zugang zu freien Medien, dauerbeschallt von staatlicher Kriegspropaganda?»
Es sei nicht zielführend, Menschen derselben Staatszugehörigkeit in Gut und Böse zu unterteilen. «Es ändert nichts an der Tatsache, dass sowohl die guten als auch die bösen Russen primär eines sind: Russen.»
Elena sieht das anders. Stolz kramt sie eines ihrer Bilder aus der Wohnzimmerecke. Es zeigt ihre Protestgruppe, wie sie mit Plakaten und Fahnen vor einem Alpenpanorama steht. «Wir werden nicht aufhören, bis Gerechtigkeit kommt. Bis Russland sich aus der Ukraine zurückzieht.»
Wenn dieser Tag kommt, wird Elena mit Champagner darauf anstossen. Aber nicht in St. Moritz. Sondern auf der Rathausbrücke in Zürich.
Warum in ihrem Namen?
In Putins Name werden unschuldige Menschen getötet und Städte zerstört.
Nicht in ihrem.
Ich bin Schweizer, durch und durch. Habe aber mit der selbsternannten Volkspartei nichts am Hut und sehe deren Verhalten und Einstellung auch nicht als schweizerisch an.
Was ist schweizerisch, was ist Russisch?
Gut und böse gibt es überall, rund um den Globus, in jedem Land.