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Ukraine: 3 Russen erzählen vom Krieg, den es offiziell gar nicht gibt

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Polizisten führen einen Demonstranten in St.Petersburg ab.Bild: keystone

«Wir mussten fliehen» – 3 Russen erzählen vom Krieg, den es offiziell gar nicht gibt

In Russland lebt es sich derzeit gefährlich, wenn man sich der Staatspropaganda widersetzt. Drei abtrünnige Russinnen und Russen erzählen.
17.03.2022, 09:2717.03.2022, 09:36
Dennis Frasch
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Krieg? In der Ukraine herrscht kein Krieg. Nur eine Befreiung des russischen Brudervolkes von den Fängen des Westens. Eine «Entnazifizierung». Die Sanktionen, der Zerfall des Rubels und der bevorstehende Bankenkollaps – ein Versuch der USA und ihren Verbündeten, Russland in die Knie zu zwingen.

An solchen Weltansichten führt in Russland momentan kein Weg vorbei. Denn alle anderen Interpretationen sind verboten. watson hat mit drei Russinnen und Russen gesprochen, die es trotzdem wagen, sich gegen ihre Regierung auszusprechen. Und deswegen teilweise fliehen mussten.

Denis Kataev, 37, Journalist und Moderator

Denis Kataev im Studio von Doschd.
Denis Kataev im Studio von Doschd.bild: zvg

Bis vor Kurzem war ich Journalist und Moderator beim TV-Sender «Doschd», dem letzten unabhängigen Fernsehkanal in Russland. Ich moderierte die abendliche Nachrichtensendung «Here & Now» für sieben Jahre. Am dritten März musste «Doschd» den Betrieb einstellen und ich aus Russland fliehen. Ich erwischte eines der letzten Flugzeuge nach Zypern.

«Doschd-TV», was übersetzt «Regen-TV» bedeutet, war im Pay-TV empfänglich, aber auch gratis auf Youtube, wo wir über 3 Millionen Abonnenten und über eine Milliarde Views verzeichnen. Letztes Jahr, nachdem wir intensiv über Alexander Nawalny berichtet hatten, wurden wir aus dem Journalistenpool des Kremls geworfen und vom Justizministerium als «ausländische Spione» gebrandmarkt. Wir machten trotzdem weiter.

«Die Menschen glauben an Putin, der das russische Volk retten wird. Nicht einmal ein Bankenkollaps und die totale Zerstörung der Wirtschaft wird etwas daran ändern.»

Doch mit dem Krieg in der Ukraine wurde ein ganz neues Level erreicht. Er war auch für uns ein Schock. Wir berichteten 24 Stunden am Tag und brachten den Menschen die Wahrheit: Nämlich, dass Russland einen Angriffskrieg führt. Wir berichteten aus den ukrainischen Städten, die angriffen wurden. Auf YouTube schauten uns bis zu 25 Millionen Menschen zu – pro Tag. Wir hatten das Gefühl, wichtige Aufklärungsarbeit zu leisten.

Doch es ging nur wenige Tage, bis uns verboten wurde, den Krieg als solchen zu bezeichnen. Plötzlich wurde es sehr gefährlich, unabhängigen Journalismus zu machen. Das Verbreiten von «Fake News» über den Krieg wird jetzt mit 15 Jahren Gefängnis bestraft. Interviews mit Menschen aus der Ukraine gelten sogar als Landesverrat, wofür man 20 Jahre hinter Gitter wandern kann.

Wir stellten unseren Betrieb zwar ein, aber für mich und meine Kolleginnen war es nicht mehr sicher in Russland. Die Staatsanwaltschaft stufte unsere Inhalte als «extremistisch» ein. Wir mussten fliehen. Hunderte Journalisten verliessen das Land und gingen in die baltischen Staaten oder die Türkei, nach Armenien oder Georgien.

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Polizisten verhaften einen Demonstranten in Moskau.Bild: keystone

Die neuen Zensurbestimmungen markieren das definitive Ende der Medienfreiheit und der freien Meinungsäusserung in Russland. Und sie werden in Putins Russland auch nicht mehr zurückkehren. Ich hoffe, dass ich eines Tages wieder nach Hause kommen kann. In ein anderes, neues Russland. Bis dahin werden wir probieren, auf alternativen Kanälen wie YouTube oder Telegram die Wahrheit zu verbreiten.

Momentan ist es ein aussichtsloser Kampf. Die Menschen in Russland wurden einer totalen Gehirnwäsche unterzogen. 60 Prozent der Bevölkerung unterstützt die «spezielle Militäroperation» in der Ukraine. Sie glauben, sich in einem Krieg mit der Nato und dem Westen zu befinden. Sie glauben an Putin, der das russische Volk retten wird. Nicht einmal ein Bankenkollaps und die totale Zerstörung der Wirtschaft wird etwas daran ändern. Es herrscht gar eine gewisse Nostalgie, die harten Zeiten erinnern viele an die Sowjetunion. Sie idealisieren die Vorstellung, isoliert von der Welt zu leben und die letzten, heroischen Widerstandskämpfer im Duell mit dem Westen zu sein.

Meine Hoffnung liegt in den etwa 20 Millionen Russen, die anders denken. Das sind eine Menge Leute. Ich bin fest davon überzeugt, dass das russische Volk wieder zur Vernunft kommt. Denn es ist nicht Russland, das gegen die Ukraine und den Westen kämpft. Es ist Wladimir Putin.

Ulyana, 34, in der Werbebranche tätig

Meine Mutter sagte mir, dass ich dieses Gespräch in der Küche mit laufendem Wasserhahn führen sollte. So wie man es zu Sowjet-Zeiten machen musste, um die mithörenden Spitzel zu täuschen.

Ich lebe in Moskau, ich bin hier aufgewachsen. Seit Jahren engagiere ich mich bei Protesten und Aktionen gegen die Regierung, aber das ist nun vorbei. Ich fühle mich, als wäre es 1937. Ich will weg von hier.

Die letzten Wochen waren verrückt. Keine Stunde verging, ohne dass ich Meldungen über neue Bombenanschläge und Gräueltaten las. Es war surreal. Ich sah all meine Lebenspläne den Bach heruntergehen. Grosse Firmen fingen an, das Land zu verlassen. Freunde verloren ihre Jobs.

Doch das Schlimmste an all dem: Niemanden scheint es zu stören. Am 27. Februar fuhr ich mit der Metro nach Hause. Ich musste weinen, weil ich so angespannt war. Es kümmerte keinen. Die Menschen schauten mich verwirrt an. Da realisierte ich: Niemand wusste, dass Krieg ist. Sie waren völlig uninformiert, komplett ahnungslos. Manchmal möchte ich einfach explodieren, die Wahrheit herausschreien – aber das ist verboten. Man muss sehr vorsichtig sein. Auch wenn die Polizei nicht in der Nähe ist. Es gibt hier Leute, die zur Polizei gehen und einen verpfeifen, wenn sie hören, dass man so etwas sagt.

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Viele Menschen wissen nicht, dass Krieg ist: eine U-Bahn in Moskau.Bild: keystone

Ich kann nicht mehr, ich will das Land verlassen. Doch das ist gar nicht so einfach. Der Rubel ist nichts mehr wert, die Preise explodieren und es gibt nur noch Flüge nach Istanbul. Ich konnte mir ein Ticket für Ende März sichern. Es war teuer. Ich fühle mich sehr privilegiert deswegen, denn die meisten Menschen können es sich nicht mehr leisten, fortzugehen.

Ich muss all meine Social-Media-Accounts und Chats löschen, denn am Flughafen wird man komplett durchleuchtet. Eine Freundin von mir wurde am Flughafen verhaftet, weil man Bilder von ihr bei einer Demonstration fand.

«Meine Landsleute hassen mich, mein Präsident hasst mich und wenn ich auswandere, dann werden die Menschen dort uns auch verachten.»

Der Staat kann das machen, weil es die meisten Menschen schlicht und einfach nicht kümmert. Sie wollen in Russland bleiben. Ich sehe das bei meinen Schwiegereltern. Er arbeitete sein Leben lang für das russische Militär, sie war Lehrerin. Sie schauen jeden Tag Staatsfernsehen und sind überzeugt, dass alles in bester Ordnung ist. Ich versuche seit neun Jahren, sie vom Gegenteil zu überzeugen. Vergeblich. Meine Schwiegermutter sieht in mir mittlerweile den «Feind».

Ich habe wenig Hoffnung, dass sich die Situation in naher Zukunft ändern wird. Was mich betrifft: Ich fühle mich wie in einem Loch. Als gäbe es kein Hier und Jetzt. Kein Morgen. Meine Landsleute hassen mich, mein Präsident hasst mich und wenn ich auswandere, dann werden mich die Menschen dort auch verachten.

Ich weiss nicht, was ich in Istanbul machen werde. Oder wie lang ich dort bleiben werde. Ich weiss nur, dass ich nie wieder zurück nach Russland will.

Kate, 32, Musikproduzentin

Seit über 10 Jahren lebe ich in Moskau. Doch vor zwei Wochen bin ich nach Georgien geflohen.

Ich spiele schon lange mit dem Gedanken, mein Land zu verlassen. Die Regierung ging in der letzten Dekade zunehmend härter gegen Journalisten und Aktivistinnen vor. Sie werden als «ausländische Spione» gebrandmarkt. Viele meiner Freunde verloren ihren Job und liefen Gefahr, inhaftiert zu werden. Das verunsicherte mich, weckte aber gleichzeitig auch die Rebellin in mir. Ich arbeitete viel ehrenamtlich. Ich übersetzte zum Beispiel für NGOs vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte.

Ich wollte aber noch mehr tun, zu mehr Demonstrationen gehen, aktiver sein, meinen Teil beitragen. Aber der Druck seitens der Regierung wurde immer grösser. Und seit dem Beginn des Krieges ist er unerträglich geworden. Die Meinungsfreiheit in Russland ist tot. Menschen werden willkürlich verhaftet und gefoltert.

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Russische Polizisten vor einer nicht genehmigten Demonstration in der Moskauer Innenstadt.Bild: keystone

Ich fühlte mich nicht mehr sicher in meinem Heimatland. In der ersten Kriegswoche war ich in Moskau und verfolgte den Angriff auf die Ukraine in den internationalen Medien. Gleichzeitig sah ich unsere Staatspropaganda. Ein unbeschreibliches, grauenhaftes Gefühl.

Diese Soldaten, die unschuldige Menschen erschiessen, kommen aus demselben Land wie ich. Sie haben denselben Pass wie ich. Sie sprechen dieselbe Sprache wie ich. Einige von ihnen sind wahrscheinlich mit mir zur Schule gegangen.

Manchmal schäme ich mich dafür, Russin zu sein. Obwohl ich das eigentlich nicht will. Ich will mich nicht für mich selbst, meine Freunde und Familie schämen müssen. Niemand von ihnen will Krieg.

Ich glaube, dass Putin momentan sogar zwei Kriege führt. Der erste wird auf ukrainischem Boden und gegen die ukrainische Bevölkerung geführt. Der zweite richtet sich gegen die russische Bevölkerung. Die Menschen werden einer Gehirnwäsche unterzogen. Demonstranten werden gefoltert. Die Polizei kann alle willkürlich durchsuchen, Telefone wegnehmen und Chats kontrollieren. Wenn ihnen nicht gefällt, was sie sehen, wird man inhaftiert. Russland hat sich zu einem autokratischen Polizeistaat entwickelt. Die russische Regierung führt einen Krieg gegen unsere Integrität.

«Ich habe Angst um meine Freunde und meine Familie. Es gibt keine Zukunft mit unserem derzeitigen Präsidenten. Gerne würde ich mich irren, aber ich glaube nicht, dass ich das tue.»

Ich hielt das nicht mehr aus. Seit ich in Tiflis bin, verspüre ich eine grosse Erleichterung. Ich kann an Demonstrationen gehen oder den örtlichen NGOs Hilfe leisten, ohne Angst zu haben.

Und doch hadere ich mit dem Gedanken, vielleicht für lange Zeit nicht mehr in mein Heimatland zurückkehren zu können. Ich weiss, dass das Leiden des ukrainischen Volkes viel schlimmer ist, und ich habe das grosse Glück, dass ich im Moment nicht bombardiert und beschossen werde. Aber es tut trotzdem weh.

In Russland haben wir ein Sprichwort: Hoffe auf das Beste, aber sei auf das Schlimmste gefasst. Ich hoffe wirklich auf das Beste, aber die letzten 10 Jahre belehrten mich eines Besseren. Ich habe Angst um meine Freunde und meine Familie. Es gibt keine Zukunft mit unserem derzeitigen Präsidenten. Gerne würde ich mich irren, aber ich glaube nicht, dass ich das tue.

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83 Kommentare
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banda69
17.03.2022 09:38registriert Januar 2020
"Hunderte Journalisten verliessen das Land und gingen in die baltischen Staaten oder die Türkei, nach Armenien oder Georgien."

Und die Rechtspipulisten von der SVP bezeichnen die Schweiz als Diktatur. Aber wollen nicht gerade die SVPler die unabhängigen Medien (SRF, keine Subventionen für Medien) kaputt machen? Und ja. Die SVP ist brandgefähelich und schadet der Schweiz. Immer.
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CankadeliK
17.03.2022 10:04registriert März 2020
Es ist tragisch. Putin spricht von einer "Entnazifizierung" doch er Unterdrückt die Meinungsfreiheit und inhaftiert jeden der anderer Meinung ist. Ironisch, denn genau dass haben die Nazis gemacht. Ich bete für Russland, die Ukraine und die ganze Welt. Und auch ist es wichtig dass wir nicht Russland und das Volk verurteilen, sondern die Strippenzieher. Seid tolerant gegenüber den Russen, denn die wenigsten können etwas dafür. Es darf nicht sein dass Menschen aufgrund taten ihrer Regierung diskriminiert werden.
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Rivka
17.03.2022 10:04registriert April 2021
'Sie glauben an Putin, der das russische Volk retten wird. Nicht einmal ein Bankenkollaps und die totale Zerstörung der Wirtschaft wird etwas daran ändern.'

Und das, meine Damen und Herren, ist bittere Realität, dass die westlichen Politiker nicht wahrhaben möchten. Es wird keinen Volksaufstand in Russland geben wie wir es uns hoffen. Gibt es eine Lösung um den Krieg in der Ukraine und in Russland gegen Bürger, die die Wahrheit kennen, zu beenden? Ja, den gibt es...nur fehlt ein Brutus dafür. Die Lage scheint aussichtslos zu sein. Der Irre von Kreml wird weiter zerstören 😒.
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