Herr Glättli, Sie propagieren Datenschutz und trotzdem teilen Sie Ihr persönliches Bewegungsprofil mit der ganzen Schweiz. Diesen Widerspruch müssen Sie erklären.
Balthasar Glättli: Mir ist selbst nicht ganz wohl dabei, ich komme mir ziemlich nackt vor. Aber um den Menschen vor Augen zu führen, wie exakt die Position von uns allen ständig überwacht und gespeichert wird, gebe ich meine Daten preis. Wenn man es nicht direkt sieht, glaubt man es nicht.
Welcher Mobilfunkanbieter hat Ihnen die Daten herausgegeben, die zeigen, wo und wann Sie in der Schweiz während sechs Monaten unterwegs waren?
Das spielt keine Rolle. Swisscom, Sunrise und Orange sind alle im selben Ausmass von den gesetzlichen Vorschriften zur Vorratsdatenspeicherung betroffen. Sie machen dies nicht aus Vergnügen, sondern weil sie es müssen.
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Wie haben Sie den Mobilfunkprovider dazu gebracht, die Daten herauszugeben?
Jeder Provider ist im Sandwich zwischen dem Staat, der mehr Daten sammeln will, und den Kunden, die möglichst wenig Daten gespeichert haben wollen. Mit dieser Situation sind längst nicht alle zufrieden. Die Provider haben kein Interesse daran, mehr Daten zu speichern, als sie selbst für die Rechnungsstellung oder Marketingzwecke brauchen. Es ist auch nicht verhältnismässig, private Kommunikationsdaten ohne Verdacht auf ein Verbrechen sechs oder gar zwölf Monate auf Vorrat zu horten, da dies zu 99,99 Prozent unbescholtene Bürger tangiert.
Wollen Sie der Polizei etwa verbieten, Daten zu sichten, die Verbrecher überführen könnten?
Am Anfang einer Datenspeicherung sollte immer zuerst ein konkreter Anfangsverdacht stehen. Eine Ausnahme könnte allenfalls bei Vermisstmeldungen oder einer Entführung Sinn machen. Denkbar wäre für mich, dass die Kommunikationsdaten ein, zwei Wochen gespeichert werden, sofern der Kunde dem explizit zustimmt. Ich bin aber entschieden gegen die Speicherung von Daten aller Bürger auf Vorrat. So sieht es auch der Europäische Gerichtshof, der die Vorratsdatenspeicherung in Europa als nicht rechtmässig erklärt hat.
In der EU hätten die Personendaten zwei Jahre gespeichert werden dürfen. Bei uns ist es auch künftig höchstens ein Jahr.
Bislang wird bei uns während sechs Monaten gespeichert, wer wann von wo mit wem telefoniert oder per E-Mail, SMS etc. kommuniziert hat. Dies weckt Begehrlichkeiten. Es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Strafverfolgungsbehörden auch den Inhalt von Gesprächen oder SMS auf Vorrat speichern wollen.
Sie malen das Schreckgespenst eines Überwachungsstaates an die Wand.
Überwacht wird, was technisch möglich ist und nicht, was bürgerrechtlich korrekt ist. Seit 9/11 geht es immer mehr nach dem Motto ‹Sicherheit vor Freiheit›. Der Druck auf den Staat, alle denkbaren Vorkehrungen zu treffen, also auch ohne Verdacht Daten aller Bürger auf Vorrat zu sammeln, bevor etwas passieren könnte, hat spürbar zugenommen.
Von der Vorratsdatenspeicherung sind die Inhalte einer SMS oder E-Mail ausgenommen. Gespeichert wird nur, wer wann und wo mit wem kommuniziert hat. Auf Facebook oder Twitter verraten Sie viel mehr über sich. Ist das nicht widersprüchlich?
Auf den ersten Blick durchaus! Der entscheidende Unterschied ist aber: Facebook und Twitter basieren auf Freiwilligkeit, die Vorratsdatenspeicherung jedoch nicht. Jeder sollte selbst entscheiden können, was in der Beziehung mit der Partnerin bleibt, was man mit Freunden teilen möchte oder was jeder wissen darf – das macht einen grossen Unterschied. Zudem würde ich nie so intensiv die sozialen Medien nutzen, wenn ich nicht Politiker wäre – hier ist das ein Teil meines öffentlichen Auftritts.
Bundesrat und Ständerat wollen die Vorratsdatenspeicherung von sechs auf zwölf Monate verlängern. Was ist falsch daran, wenn die Staatsanwaltschaft mehr Möglichkeiten erhält, Beweise gegen Verbrecher zu finden?
Das deutsche Max-Planck-Institut hat untersucht, ob die Verlängerung der Vorratsdatenspeicherung die Aufklärungsquote erhöht. Die Studie zeigte, dass das monatelange Speichern der Kommunikationsdaten bei der Aufklärung von Verbrechen praktisch nichts bringt.
Die Strafverfolgungsbehörden sehen das ganz anders.
Es gibt natürlich immer Einzelfälle, die dann von der Justiz herausgestrichen werden.
Dann hat es sich doch schon gelohnt.
Nein. Es ist nicht verhältnismässig, die ganze Bevölkerung ohne Verdacht zu überwachen, um drei, vier Verbrechen aufzudecken. Wenn man nach der Logik ginge, ohne Rücksicht auf die Privatsphäre überall dort möglichst viele Informationen zu sammeln, wo häufig schwere Verbrechen passieren, müsste in jeder Wohnung ein Mikrophon mitlaufen: Schliesslich ist häusliche Gewalt bei vielen Verbrechen im Spiel. So wurden in Deutschland 2011 die Hälfte der Morde an Frauen vom Partner oder Ex-Partner verübt – Woche für Woche sechs solcher Morde.
E-Mail-Anbieter, Skype oder Kurznachrichten-Apps wie Threema verschlüsseln ihre Dienste. Kriminelle können sich damit der Telefonüberwachung entziehen. Die Polizei braucht doch zeitgemässe Instrumente, um Kriminelle auch im Internet überwachen zu können?
Kriminelle wechseln tatsächlich vom Telefon zu verschlüsselten Diensten wie Skype. Deshalb will die Polizei nun mit Trojanern auf Verbrecherjagd gehen. Das ist allerdings gar nicht notwendig, da Skype-Besitzerin Microsoft die Daten auf einen Gerichtsbeschluss hin sowieso herausgeben würde.
Nicht alle Kommunikationsanbieter kooperieren mit den Behörden.
Zwangsmassnahmen wie ein Staatstrojaner sind gefährlich. Wer garantiert, dass die Fahnder nur wie vorgesehen die Netzkommunikation überwachen und nicht auch die Festplatte durchsuchen? Wer garantiert, dass mit dem Trojaner nicht gefälschte Beweise auf den infizierten PC geladen werden? In Deutschland hat man gesehen, dass die Ermittler mit dem Staatstrojaner mehr ausspioniert hatten, als sie befugt waren. Es braucht daher zumindest eine unabhängige Fachkommission, die den Trojaner-Einsatz überwacht und den Programmcode kontrolliert.
Vor behördlichen Missbräuchen brauchen Sie keine Angst zu haben. Der Trojaner-Einsatz bedingt eine richterliche Genehmigung.
Tatsächlich wird der Trojaner im Gegensatz zur Vorratsdatenspeicherung nicht ohne einen Anfangsverdacht eingesetzt. Gibt man den Fahndern aber den kleinen Finger, wollen sie bald die ganze Hand. Oder glauben Sie wirklich, dass der Staatsanwalt nicht unter Druck kommt, wenn er bei einem Schwerverbrechen auf sämtliche Daten auf der Festplatte Zugriff hat, diese aber streng nach Vorschrift nicht auswerten darf?
Noch einmal: Sie müssen den Ermittlern doch die Werkzeuge erlauben, um bei einem dringenden Verdacht verschlüsselte Kommunikation abhören zu können?
Ebenfalls noch einmal: Ich verstehe, dass Bundesrätin Simonetta Sommaruga ihrem Justizapparat alle die von ihnen gewünschten Werkzeuge geben will, um Verbrechen zu verhindern. Das Justizdepartement hat ein Elefantenohr für die Anliegen der Strafverfolgungsbehörde und somit für die Stärkung der Sicherheit. Leider ist das zweite Ohr – für die Stimme der Freiheit – eher das von einem Mäuschen.
Der Ständerat hat die Ausweitung der Vorratsdatenspeicherung auf zwölf Monate und den Staatstrojaner Mitte März mit 30 zu 2 Stimmen durchgewunken. Was tun Sie, wenn es die Nationalräte ebenfalls nach mehr Überwachung gelüstet?
Dann ist ein Referendum denkbar. Es gibt von links bis rechts Politiker, die sich gegen die geplante BÜPF-Revision einsetzen. Ich hoffe aber, dass ein Referendum gar nicht notwendig sein wird. Der Europäische Gerichtshof hat die Vorratsdatenspeicherung bereits für unvereinbar mit den Grundrechten erklärt. Das Urteil ist für die Schweiz zwar nicht bindend, ich habe trotzdem die Hoffnung, dass der Nationalrat zumindest die Verdopplung der Vorratsdatenspeicherung kippt.
Wie viele Daten jedes Jahr gespeichert werden, hat die WochenZeitung in dieser Grafik dargestellt.
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