Sag das doch deinen Freunden!
Den
Schimpfreim haben viele Menschen italienischer Abstammung bis
heute in den Ohren: «Tschingg-a-la-mora,
Dräck-a-de-Schnorra» wurde ihnen als Kind nachgerufen, auf
dem Schulweg, auf dem Pausenplatz. Tschingg kommt von Cinque (Fünf)
und Mora ist ein italienisches Zählspiel ähnlich wie Schere-Stein-Papier, nur dass man die Zahl der Finger erraten
muss. Der Ausdruck «Tschingg» wurde zur abschätzigen Bezeichnung
für Italiener.
Bereits im 19. Jahrhundert waren viele in die Schweiz gekommen, häufig als Arbeiter in den Tunnels, die durch die Alpen gebohrt wurden. Die starke Zuwanderung – darunter auch viele Deutsche – erzeugte Unbehagen. Der Begriff «Überfremdung» tauchte in der politischen Debatte auf, und mit ihm die Bezeichnung Tschingg.
Widerspruch gab es durchaus: «Heute verlangen die in der deutschsprachigen Schweiz lebenden Italiener mit vollem Recht das Ausmerzen dieses Spottnamens und dessen Abarten aus dem Sprachgebrauch», hiess es in einem Leserbrief, der im September 1940 in der NZZ veröffentlicht wurde. Die Zeit dafür aber war nicht reif, im Gegenteil: Der «Tschingg» wurde in den folgenden Jahren erst richtig salonfähig.
Nach dem Zweiten Weltkrieg begann die verschonte Schweiz erneut im grossen Stil «Gastarbeiter» zu rekrutieren, um den wirtschaftlichen Nachholbedarf zu befriedigen. Zwischen 1950 und 1970 stieg die Zahl der Ausländer von 300'000 auf rund eine Million. Sie stammten zum grössten Teil aus Italien und arbeiteten als «Saisonniers» auf dem Bau oder in anderen anstrengenden Berufen.
Die Einheimischen «dankten» es ihnen, indem sie sie in lausige Baracken pferchten, die abseits der Wohnquartiere lagen. Man wollte mit ihnen
nichts zu tun haben und klammerte sich an die Hoffnung, sie würden
irgendwann wieder gehen. Häufig blieb es nicht bei verbalen Anfeindungen gegen die «Gastarbeiter» und ihren Nachwuchs. Sie wurden
angepöbelt und sogar verprügelt, weil sie anders waren,
Ausländer, Italiener.
Einen
Eindruck des damaligen Klimas lieferte der langjährige «Blick»-Journalist und Schriftsteller Arthur Honegger: Am
Stadtfest seines Wohnortes Bülach im Zürcher Unterland seien «Tschinggen» unerwünscht gewesen. «Denen stellen wir eine
Gulaschkanone beim alten Sekundarschulhaus auf. Da können sie ihre
Spaghetti fressen», entschied man. Tauchten sie trotzdem am Fest
auf, wurden sie angerempelt und beschimpft: «Haut ab, wir wollen
euch nicht!»
Der
Hass manifestierte sich in der Politik: 1961 wurde die «Nationale Aktion gegen die Überfremdung von Volk und Heimat» (NA) gegründet. Der Bundesrat goss Öl ins Feuer, als eine von
ihm eingesetzte «Expertenkommission zum Studium der
Ausländerproblematik» 1964 zum Schluss kam, die Schweiz befinde sich «im Stadium einer ausgesprochenen Überfremdungsgefahr». Die «übermässige Zunahme der fremden Einflüsse» gefährde «unsere
nationale Eigenart und damit die wichtigste Grundlage unserer
staatlichen Eigenständigkeit».
Nun
schlug die Stunde eines ebenso schillernden wie rätselhaften
Demagogen: James Schwarzenbach. Er entstammte einer schwerreichen
Zürcher Textildynastie, mit der er sich überworfen hatte, weil er
zum Katholizismus konvertiert war. Trotzdem hatte er genug Geld, um
ein sorgenfreies Leben als Journalist, Autor und Verleger zu
führen. Der distinguierte Grossbürger Schwarzenbach trat der NA bei
und eroberte 1967 ein Mandat im Nationalrat.
1969
lancierte die NA ihre Volksinitiative «gegen die Überfremdung».
Sie verlangte eine Reduktion des Ausländeranteils in der Bevölkerung
von 17 auf 10 Prozent. Eine halbe Million «Gastarbeiter» hätte
die Koffer packen müssen. Der Abstimmungskampf verlief emotional,
das Motto hiess «Alle gegen einen», genauer gegen James
Schwarzenbach, nach dem die Initiative schon bald benannt wurde. Fast
täglich trat er an einem Podium auf und dominierte als brillanter
Redner die Debatte, sogar in der Westschweiz, wo er mit seinem Französisch beeindruckte.
Die
Abstimmung am 7. Juni 1970 endete mit einem Schock: Obwohl die Gegner
eindringlich vor den wirtschaftlichen Folgen gewarnt hatten,
erreichte die Initiative bei einer Rekord-Beteiligung von 75 Prozent
(allerdings nur Männer) einen Ja-Anteil von 46 Prozent. Für
Schwarzenbach war es ein ideales Ergebnis. Als
Industriellensprössling war er sich der Konsequenzen seines
Begehrens durchaus bewusst, gleichzeitig hatte er sich definitiv als
Player in der Schweizer Politik etabliert.
War
Schwarzenbach aber wirklich fremdenfeindlich? Er äusserte ungeniert
Sympathien für autoritäre und faschistische Strukturen.
Andererseits erklärte Helmut Hubacher, der spätere Präsident der
SP Schweiz und einer seiner damaligen Hauptwidersacher, die
Initiative sei für Schwarzenbach ein Mittel zur
Befriedigung seines Geltungsdrangs gewesen. «Es war die Chance
seines Lebens, berühmt zu werden», sagte Hubacher in einem
SRF-Dok-Film.
Schwarzenbach
überwarf sich bald mit der NA und gründete eine neue Partei, die
Republikaner. Als Sekretär amtierte ein gewisser Ulrich Schlüer.
Sie eroberten bei den Wahlen 1971 (an denen erstmals die Frauen
teilnehmen durften) auf Anhieb sieben Sitze im Nationalrat. Die
Nationale Aktion schaffte «nur» vier. Doch James Schwarzenbach
blieb ein ausgesprochener Einzelkämpfer. Ende der 70er Jahre zog er
sich aus der aktiven Politik ins Engadin zurück, wo er 1994 starb.
Seine
Saat aber war aufgegangen. Helmut Hubacher erhielt Einblick in
Schwarzenbachs Spenderliste und musste zu seinem Schrecken
feststellen, dass viele «einfache Leute» den Kämpfer gegen
die «Überfremdung» mit kleinen, aber auch grösseren
Geldbeträgen unterstützt hatten. Es war für die Linke ein
Knackpunkt: Sie machte sich stark für eine weltoffene Schweiz und
verlor einen grossen Teil der Arbeiterschaft für immer an
die nationalkonservative Rechte.
Das
Klima gegenüber den Ausländern aber entspannte sich. Die offene
Fremdenfeindlichkeit verschwand zunehmend. Zwei Faktoren trugen dazu
bei, darunter paradoxerweise das Ende der jahrelangen Hochkonjunktur.
Als die Wirtschaft 1973 in eine schwere Rezession stürzte, wurden
Tausende Ausländer einfach nach Hause geschickt. Die
Personenfreizügigkeit existierte damals noch nicht. Auch die
gesellschaftliche Öffnung in den 60er Jahren wirkte sich positiv
aus.
Zwei weitere «Überfremdungs»-Initiativen kamen 1974 und 1977 zur Abstimmung und wurden klar abgelehnt. Die zunehmende Akzeptanz wurde auch auf dem Pausenplatz spürbar, was ich als Primarschüler selbst erlebte. Als ein Klassenkamerad einen italienischen Mitschüler als «Tschinggeli» verspottete, nahmen wir anderen ihn uns zur Brust: «So etwas sagt man nicht!».
Die Szene ereignete sich in einem Dorf im Zürcher Unterland, in dem ich aufgewachsen bin und das nur wenige Kilometer von jenem Bülach entfernt liegt, wo die Italiener rund zehn Jahre zuvor angepöbelt und beschimpft worden waren. Nun wandelte sich ihr Image, und auch der Umgang mit Ausländern wurde ziviler. Die Wörter Tschingg, Gastarbeiter und Überfremdung verschwanden aus dem allgemeinen Sprachgebrauch.
Heute
gibt es nur selten Übergriffe verbaler und körperlicher Art
auf Ausländer, obwohl ihr Anteil auf 25 Prozent
angestiegen ist und mehr als ein Drittel der Bevölkerung einen
Migrationshintergrund besitzt. Verschwunden aber sind die Vorbehalte
und Ängste nie. Heute manifestieren sie sich im Internet – und im Ja zu diversen SVP-Initiativen. Und die nächste Abstimmung steht unmittelbar bevor.
Die Zitate im Text stammen aus einem Artikel, der 2000 im «Magazin» des «Tages-Anzeigers» erschienen ist. Eine weitere Quelle ist die von der Historikerin Isabel Drews verfasste Studie «Schweizer erwache!» über James Schwarzenbach.