Die Gegner der Durchsetzungs-Initiative machen mobil. Nachdem sich bereits 120 Rechtsprofessoren dagegen ausgesprochen haben, schalten sich nun auch die Staatsanwälte ein. Einer der bekanntesten, Thomas Hansjakob, Erster Staatsanwalt des Kantons St.Gallen, sagt, was die Durchsetzungs-Initiative in der Praxis bedeutet.
Was stimmen Sie am 28. Februar bei der Durchsetzungs-Initiative?
Thomas Hansjakob: Selbstverständlich Nein. Das ist keine Frage.
Warum ist das für Sie so klar?
Die meisten Strafverfolger werden Nein stimmen. Unter den Strafverfolgern gibt es viele, die gegenüber Ausländern eine kritische Haltung haben, weil sie viel mit Ausländern beschäftigt sind. Aber die Durchsetzungs-Initiative finden selbst Strafverfolger, die eine sehr harte Haltung gegenüber Ausländern haben, daneben.
Warum schwiegen die Staatsanwälte so lange?
Wir beschäftigten uns ehrlich gesagt nicht damit, weil wir dachten, dass die Initiative sowieso keine Chance hat und jenseits von Gut und Böse ist. Ich studierte sie das erste Mal im Dezember 2015, erst diesen Januar legten wir für die Umsetzung in St.Gallen erste Richtlinien fest. Wir redeten zwar unter einander und stellten fest, dass die Initiative nicht praktikabel ist, haben aber zu lange nichts unternommen.
Warum nicht?
Grundsätzlich halte ich mich zwar zurück bei politischen Themen, die später meine Arbeit beeinflussen. Sonst heisst es später, ich sei befangen. Weil ich jetzt aber begriffen habe, was die Durchsetzungs-Initiative für uns an der Front bedeutet und dass es für den Bürger schwierig ist, abzuschätzen, was sie auslöst, schalte ich mich nun in die Diskussion ein. Es gibt vieles, das sich bisher niemand so konkret überlegt hat, auch die SVP nicht. Eine Annahme der Initiative wäre ein Dammbruch.
Was würde sich denn in der Praxis tatsächlich verändern?
Die Idee der Initianten ist ganz bewusst, dass man den Richter in seinem freien Ermessen einschränkt, weil die Initianten offensichtlich das Gefühl haben, die Richter würden dieses freie Ermessen oft falsch ausüben. Dies wollen die Initianten verhindern, indem sie klare Regeln aufstellen. Starre gesetzliche Regeln stimmen dann oft für die Mehrzahl der Fälle. Aber es gibt immer Fälle, in welchen solche Regeln zu unlogischen und unfairen Ergebnissen führen. Die Durchsetzungs-Initiative führt meiner Meinung nach bei 30 bis 40 Prozent der Fälle zu unfairen Ergebnissen.
Können Sie ein Beispiel machen?
Nehmen wir an, ein 50-jähriger Italiener, der seit Geburt in der Schweiz lebt, fuhr vor acht Jahren innerorts 20 Kilometer pro Stunde zu schnell. Er bekommt dadurch eine Vorstrafe und eine bedingte Geldstrafe. Hat er nach der Einführung der Durchsetzungs-Initiative Streit mit dem Nachbarn, tritt er dessen Gartentür ein und dringt in den Garten ein, dann begeht er eine Sachbeschädigung und einen Hausfriedensbruch und bekommt zwingend eine Landesverweisung. Beide Delikte sind aber nur Antragsdelikte. Die Landesverweisung hängt also davon ab, ob der Nachbar einen Strafantrag unterzeichnet. Tut er das, dann wird der Italiener ausgewiesen. Verzichtet er darauf – das kann er, zum Beispiel weil der Täter ihm Geld dafür bezahlt – darf der Italiener bleiben. Es ist doch völlig unlogisch, dass es vom Willen des Geschädigten eines banalen Deliktes abhängig ist, ob einer nun die Schweiz verlassen muss oder nicht.
Gibt es ...
... lassen Sie mich bitte noch kurz zu Ende führen: Schlägt der Italiener hingegen vor acht Jahren das Gartentörli des Nachbarn ein, bekommt dadurch eine Vorstrafe und fährt dann nach der Durchsetzungs-Initiative 20 Kilometer pro Stunde zu schnell, darf er in der Schweiz bleiben. Selbst wenn er innerorts 60 Kilometer pro Stunde zu schnell ist, wird er nicht des Landes verwiesen, weil Raserdelikte nicht im Katalog der Durchsetzungs-Initiative sind. Das heisst, es gibt durch die Initiative Fälle, bei denen die Reihenfolge der Delikte darüber entscheidet, ob jemand die Schweiz verlassen muss oder nicht. Das Beispiel zeigt, dass ein Delikts-Katalog nie für alle Fälle taugt. Der Katalog, der dem Richter vorschreibt, was er zu tun hat, schafft eine Pseudogenauigkeit, sonst nichts.
Aber wen trifft nun die Initiative tatsächlich? Hilft sie nicht, die Kriminalität zu bekämpfen?
Das grosse Problem ist, dass man mit der Initiative die falschen Leute trifft. Wir von der Staatsanwaltschaft wollen die lästigen Kriminellen loswerden. Unter ihnen gibt es viele, die kein Aufenthaltsrecht haben. Die zählen wir zur Kategorie eins. Mitglieder einer rumänischen Einbrecherbande etwa. Denen ist es wurst, ob sie mit einem Landesverweis oder einer Einreisesperre belegt sind oder nicht. Die kommen so oder so wieder. Weder ein Landesverweis noch eine Einreisesperre kann sie von weiteren Einbrüchen in der Schweiz abhalten.
Was für weitere Kategorien gibt es?
Zur zweiten Kategorie lästiger Krimineller – und zu dieser Kategorie gehören viele – zählen wir solche, die wir schon nach heutigem Gesetz ausweisen würden. Allerdings funktioniert das nicht, weil sie keine Papiere haben oder ihre Heimatländer sie nicht aufnehmen. Das sind vor allem straffällige Algerier und Marokkaner. Die können also weiter einbrechen, bekommen jedes mal einen Landesverweis, bleiben aber auch hier. Der Secondo aus Italien hingegen muss gehen, wenn er das gleiche macht. Was ich sagen will: Viele derer, die wir schon heute gerne loshätten, die werden wir auch mit der Durchsetzungs-Initiative nicht los. Dafür müssten wir viele ausschaffen, die wir heute nicht ausschaffen würden, weil sie nur banale Delikte in der falschen Reihenfolge begangen haben.
Was konkret verändert das im Justizapparat?
Eine Prognose ist relativ einfach. Wird die Initiative angenommen, müssen wir ab dem 29. Februar bei jedem Fall mit einem Ausländer überlegen, ob ein Landesverweis in Frage kommt oder nicht. Die erste Frage, die sich dann stellt, ist, betrifft das auch Straftaten, die vor der Initiative geschehen sind? Gehen wir von einer schweren Straftat mit Körperverletzung aus, die am 26. Januar begangen wurde, die Staatsanwaltschaft dann aber erst am 5. März den Strafbescheid macht. Würde die Durchsetzungs-Initiative in diesem Fall bereits gelten oder nicht? Dazu steht in der Initiative nichts. Bis das Bundesgericht einen Entscheid fällt, bedeutet das Unklarheit. Jeder, der von einem Landesverweis nach einem banalen Delikt betroffen ist, wird zudem behaupten, dass der verfassungsmässige Grundsatz der Verhältnismässigkeit über dem Initiativ-Text steht. Ob das stimmt, muss letztlich das Bundesgericht entscheiden.
Und was geschieht während dieses «unklaren Zeitraums»?
Viele derjenigen, die eine Aufenthaltsbewilligung haben und eine Landesverweisung mit Ausreisefrist bekommen, werden diesen Entscheid anfechten. Denn sie gewinnen damit auf jeden Fall Zeit, weil sie während der Dauer des Verfahrens hier bleiben können. Ziehen diese nun den Fall bis vors Bundesgericht, was etwa zwei Jahre dauern kann, wollen sie mit grosser Wahrscheinlichkeit einen Anwalt. Und diesen Anwalt bezahlt der Staat, wenn sie sich das nicht selbst leisten können.
Von wie vielen Fällen sprechen wir da?
Im Kanton St.Gallen rechnen wir damit, dass pro Jahr in etwa 400 Fällen ein Landesverweis im Strafbefehl – also wegen Delikten mit einer Strafe unter 180 Tagessätzen – ausgefällt wird. Bei all den Fällen wird erst das Bundesgericht entscheiden, ob diese Leute einen Gratis-Anwalt kriegen, wenn sie den Strafbefehl anfechten. Wenn das Bundesgericht dann entscheidet, dass es zu einem Landesverweis kommt, wird der Verurteilte vor der Ausreise nicht noch die aufgelaufenen Verfahrens- und Anwaltskosten zahlen. Wir können ihm dann die Rechnung ins Heimatland schicken und werden nie mehr etwas von ihm hören.
Können Sie sagen, wie viel mehr Arbeit es dadurch für die Gerichte geben würde?
Etwa 100 Fälle sind letztes Jahr ans Kreisgericht St.Gallen gelangt. Mit der Durchsetzungs-Initiative würden etwa 100 dazukommen, die eine Landesverweisung verhindern wollen, also doppelt so viele. Von den 100 Fällen des letzten Jahres gingen etwa 20 ans Kantonsgericht. Von 100 zusätzlichen würden sicher 80 Fälle ebenfalls ans Kantonsgericht gehen, dort hätten wir also schon eine Verfünffachung der Fälle. Die meisten gingen dann wohl noch ans Bundesgericht; natürlich aus der ganzen Schweiz, nicht nur aus St.Gallen.
Was für Auswirkungen hat das auf das Bundesgericht?
Am Bundesgericht wäre die Potenzierung noch höher. Ein Jahr nach der Annahme würde das Bundesgericht eine regelrechte Flut von solchen Fällen erleben. Das ist eine grosse Mehrbelastung für die Gerichte. Die Konferenz der Schweizer Staatsanwälte rechnet mit etwa 40 Millionen Franken Mehrkosten pro Jahr. Diese Kosten können tiefer, aber auch wesentlich höher liegen, eine Prognose ist ausserordentlich schwierig. Das Personal an allen Gerichten müsste jedenfalls massiv aufgestockt werden. Etwas salopp gesagt, würde ein grosses Puff entstehen. Sollen die Fälle rasch abgewickelt werden, wie es die Initianten fordern, kostet das schlicht viel Geld während der ersten drei Jahre.
Was ist der Hauptgrund weshalb Sie sich gegen die Initiative wehren?
Für mich ist der Hauptgrund, dass die Durchsetzungs-Initiative ein ganz fundamentaler Angriff auf die Grundprinzipien unseres Rechtsstaats ist: Zum einen würde mit der Initiative die Verhältnismässigkeitsprüfung im Einzelfall ausgehebelt und zum anderen tangiert sie fundamentale Menschenrechte, die für mich nicht zur Diskussion stehen dürfen.
Welche?
Zum Beispiel der Schutz der Familie, der hätte nach dem klaren Wortlaut der Durchsetzungs-Initiative im Bereich Landesverweisung einfach keine Gültigkeit mehr. Wir leben heute in einem weit entwickelten Rechtsstaat und sind stolz darauf. Als Jurist kann ich schlecht damit leben, dass grundlegende Menschenrechte für Ausländer in der Schweiz nicht mehr gelten sollen, wenn sie ein geringfügiges Delikt begehen. Kein anderes zivilisiertes Land in Europa stellt die grundlegenden Menschenrechte zur Disposition.