Es dürfte eine turbulente Session werden, die heute Montag in Bern beginnt. Im Zentrum stehen die Streitfragen: Hat die Energieproduktion wegen der drohenden Strom- und Gasmangellage Vorrang gegenüber Natur-, Landschafts- und Artenschutz? Soll das Umweltrecht zugunsten des Ausbaus erneuerbarer Energien gestutzt werden?
Die Emotionen gehen hoch. Kurt Fluri, FDP-Nationalrat und Präsident der Stiftung Landschaftsschutz, ist kein Politiker der lauten Töne. Doch jetzt ist er ausser sich: «Wenn das durchkommt, ist es ein Tiefpunkt schweizerischer Natur- und Landschaftsschutzpolitik.» Offenbar wurden aus Angst vor Energieengpässen im kommenden Winter alle Prinzipien zum Umwelt-, Landschafts- und Naturschutz über Bord geworfen, «für Massnahmen, die sowieso noch nicht in diesem Winter zum Tragen kommen».
Und, so fährt Fluri fort, bevor man richtig mit Stromsparen begonnen habe: «Anscheinend ist es systemrelevant, dass die Eishockeysaison jetzt beginnen kann, mitten Sommer. Das scheint wichtiger, als der Schutz unserer Landschaft und Artenvielfalt.»
Ein Jahr lang hatte die Umweltkommission des Ständerats hinter verschlossenen Türen an der Reform des Energie- und Stromversorgungsgesetzes gewerkelt. Letzte Woche hat sie nun die Umweltverbände WWF, Pro Natura, Greenpeace, den Vogelschutz, die Fischer und die Landschaftsschützer überrumpelt: Sie stellt den raschen Ausbau der erneuerbaren Energien und die Versorgungssicherheit des Landes mit Strom über Umwelt- und Landschaftsschutz.
Schon am Montag hatte die Kommission bekannt gegeben, dass der Bau grossflächiger Solaranlagen in den Alpen beschleunigt werden soll. Umweltverträglichkeitsprüfungen braucht es nicht, auch die Suche nach alternativen Standorten ist nicht mehr vorgeschrieben. Schon nächstes Jahr, spätestens 2024 soll im Wallis mit dem Bau der Freiflächen-Solaranlagen von Gondo und Gerngiols begonnen werden können.
Es ist diese Vorlage, die Fluri derart empört, zumal hier auch SP und Grüne bereit sind, Umweltauflagen zu relativieren. «Offenbar sind es nur Lippenbekenntnisse, wenn sich die Parteien für den Naturschutz Aussprechen», sagt er. Und dies, «obwohl das Potenzial an Solaranlagen an Gebäuden und im Mittelland längst nicht ausgeschöpft ist.»
Doch mit dem Communiqué von Montag über die Solaranlagen in den Bergen war es aus Sicht der Umweltverbände noch nicht ausgestanden: Am späten Freitagnachmittag veröffentlichte die Umwelt- und Energiekommission des Ständerats sodann ihre Beschlüsse zum Umbau des Stromgesetzes.
Auch darin finden sich mehrere Punkte, die auf Kosten der Umwelt gehen. Die zwei wichtigsten: Der Schutz der Biotope von nationaler Bedeutung geht der Energieproduktion nicht mehr in jedem Fall vor. Und Bestimmungen des Gewässerschutzes zu den Restwassermengen sollen ausser Kraft gesetzt werden.
Mit beiden Vorhaben werden Kompromisse über Bord geworfen, die einst mit Umweltverbänden geschlossen wurden. Der absolute Schutz nationaler Biotope, die laut den Umweltschützern nur 2 Prozent der Landesfläche ausmachen, jedoch einen Drittel aller in der Schweiz bedrohten Tierarten beherbergen, wurde im Zuge der Energiewende ausgehandelt; dafür wurden Bestimmungen gelockert, die das viel umfassendere Bundesinventar der Landschaften und Naturdenkmäler betrifft. Und beim Restwasser soll eine vor Jahren mit den Fischern ausgehandelte Erhöhung der Abflussmenge nun gestoppt werden, bevor sie in den meisten Flüssen zum Tragen kommt.
Noch sind die Entscheide frisch. Die Umweltallianz ist erst dabei, ihr Lobbying für die Session hochzufahren. Greenpeace wird am Montag eine Petition in Bern einreichen. Umweltverbände planen Sitzungen mit Fraktionen von SP, Grünen und GLP, normalerweise ihre Verbündeten.
Mit einem Referendum drohen sie hingegen noch nicht. Urs Leugger von Pro Natura sagt nur: «So wie sie jetzt vorliegen, sind die Vorschläge für uns nicht akzeptabel.» Die weitere Strategie der Umweltverbände werde aber erst nach der Session festgelegt.
Zunächst gehe es darum, den Räten aufzuzeigen, dass viele der Massnahmen «für den kommenden Winter sowieso zu spät kommen» und für die Energiewende weg von Erdöl und Atom hin zu den Erneuerbaren nicht nötig seien, ganz im Gegenteil: «Wir dürfen nicht die Klimakrise gegen die Biodiversitätskrise ausspielen. Diese beiden zentralen Herausforderungen für unsere Gesellschaft lassen sich nur miteinander lösen; sie verstärken sich gegenseitig», sagt Leugger.