Die Leute stehen Spalier, Schulkinder schwenken die Tessinerfahne, ein Glacéverkäufer preist Cassis-Sorbet an: Die Menschen jubeln, als der frisch erkorene Bundesrat Ignazio Cassis (FDP) am 28. September 2017 mit dem Sonderzug aus Bern in Bellinzona eintrifft. Achtzehn Jahre nach dem Rücktritt von Flavio Cotti (CVP) stellt die italienischsprachige Schweiz endlich wieder ein Mitglied der Landesregierung.
Doch die Euphorie ist verflogen. Gespräche von CH Media mit zahlreichen Tessin-Kennern zeigen: In seiner Heimat fliegen Cassis die Herzen nicht zu, Cotti war deutlich populärer. Deshalb ist es kein Zufall, dass Cassis gerade jetzt eine peinliche Geschichte um einen Ladendiebstahl einholt. Aber der Reihe nach.
Noch vor seiner Wahl in den Bundesrat dämpfte Cassis die hohen Erwartungen in seinem Heimatkanton. «Die Tessiner wissen, dass ich als einer von sieben unmöglich alle mehrheitsfähigen Positionen des Tessins durchbringen kann», sagte er in einem Interview. Zugleich betonte er, dass Bundesräte selbstverständlich ein spezielles Augenmerk auf ihre Kantone richteten.
Ennet des Gotthards ist die Skepsis gegenüber der EU besonders ausgeprägt. Ob EWR, Bilaterale Verträge I oder II, Ausdehnung der Personenfreizügigkeit auf Rumänien und Bulgarien: Schritte in Richtung Brüssel stossen auf Ablehnung. Eine Erklärung für das Unbehagen liefern die Grenzgängerinnen und Grenzgänger. Die Menschen im Tessin klagen über die Konkurrenz, Lohndruck und verstopfte Strassen. Vor diesem Hintergrund erstaunt es nicht, dass in diesen Tagen ausgerechnet aus seiner Heimat besonders scharfe Kritik auf Cassis niederprasselt.
Der Grund ist seine Rolle bei einem wichtigen Entscheid zur Europapolitik von Ende April. Der Bundesrat beschloss, die neuen EU-Verträge bloss dem fakultativen Referendum zu unterstellen. Das heisst: Das Ständemehr ist nicht nötig. Cassis' Stimme gab den Ausschlag. An einer Pressekonferenz gab er offenherzig zu, dass taktische Überlegungen eine Rolle spielten: Durch den Verzicht auf das Ständemehr sinken die Hürden für eine Annahme zu den EU-Verträgen.
Im Tessin reagierten viele verschnupft. Leser quittierten Onlineartikel mit einer Flut an wütenden Emojis. Die Sonntagszeitung «Mattino della domenica», Sprachrohr der Rechtspartei Lega dei Ticinesi, sprach gar von «Verrat» und «Schande». Auf der Frontseite publizierte das Blatt einen Fahndungsaufruf, illustriert mit den vier Bundesratsmitgliedern, die gegen das Ständemehr stimmten: Cassis, Martin Pfister (Mitte) sowie Elisabeth Baume-Schneider und Beat Jans (beide SP).
Die rhetorische Kettensäge der Lega gehört zwar zum Tessiner Politalltag. Doch das Gefühl, in der EU-Frage von Bern und Cassis übergangen zu werden, reicht weit über das Lager von Lega und SVP hinaus. Und auch besonnene Stimmen fremdeln mit dem Entscheid zum Ständemehr.
Die EU-Verträge hätten bedeutende Auswirkungen auf Föderalismus und direkte Demokratie, schrieben Ständerat Fabio Regazzi und Nationalrat Giorgio Fonio (Die Mitte) in einem Gastbeitrag in der Zeitung «Corriere del Ticino». Sie nicht dem obligatorischen Referendum zu unterstellen, sei kontraproduktiv, weil dies die Entfremdung zwischen Volk und politischen Entscheidungsträgern verstärke. Recherchen von CH Media zeigen denn auch, dass die Mehrheit der Tessiner Deputation im Bundesparlament für das Ständemehr plädiert.
Die Tessiner Kantonsregierung hat ihre Position noch nicht festgelegt. Regierungspräsident Norman Gobbi (Lega) spricht sich – es handelt sich um seine persönliche Meinung – für das doppelte Mehr aus. Auch er hat beobachtet, dass Cassis an Rückhalt verloren hat. Die getrübte Beziehung des Kantons zu seinem Bundesrat hat laut Gobbi aber auch damit zu tun, dass der Bundesrat unter Federführung von Cassis Milliardenbeiträge für die Ukraine beschlossen hat.
Gleichzeitig habe Bern den Kanton Tessin mit einem Beitrag von 7,5 Millionen Franken an die schweren Unwetter des vergangenen Sommers im Maggiatal abgespeist. «Manche Tessiner Bürgerinnen und Bürger haben den Eindruck: Der Bund hat mehr Geld für das Ausland als für die eigenen Menschen», sagt Gobbi.
Der Ärger über Cassis' Rolle beim Referendumsentscheid hat einen Tessiner Bürger dazu bewegt, eine unangenehme Geschichte aus der Vergangenheit der «Weltwoche» zu stecken: Ein Polizeiprotokoll über einen Vorfall in der Migros in der Gemeinde Morbio Inferiore: Am Nachmittag des 11. Februar 1989 erwischten Angestellte einen damals 27-jährigen Mann, der zwei Videokassetten gestohlen hatte.
Der Ertappte, niemand Geringeres als der heutige Bundesrat Ignazio Cassis, beglich die Rechnung (39 Franken) noch vor Ort. Interessant: Der «Mattino della domenica» berichtete bereits im Oktober 2022 über diese Geschichte, doch sie löste kein Echo aus. Gegenüber der «Weltwoche» sagte Cassis: «Der Vorfall, den ich sehr bedauere, betrifft mein Privatleben vor 36 Jahren, als ich 27 Jahre alt war.
Es war ein Fehler, für den ich mich damals beim Geschäftsführer entschuldigt habe. Leider macht man im Leben Fehler – auch ich bin davon nicht ausgenommen.»
Politisch hat die Geschichte für Cassis keine Folgen. Sie ist mehr Symptom eines Stimmungsbildes. Die Angriffe verschärfen sich, es wird mit harten Bandagen gekämpft. Es gibt allerdings auch Politiker, die Cassis verteidigen. Er habe der Italianità, gerade auch in der Bundesverwaltung, mehr Gewicht verliehen, sagt der Tessiner FDP-Präsident Alessandro Speziali.
Dass er im Tessin besonders hart kritisiert werde, liege nicht an seiner Herkunft, sondern an seiner Aufgabe. «Jeder Aussenminister, der sich für vertiefte Beziehungen mit der EU einsetzt, würde im Tessin unter Beschuss geraten.» Cassis sei kein Internationalist. Er bemühe sich um konkrete Lösungen im Landesinteresse.
Im Aussendepartement fehle es an Dossiers, mit denen Cassis konkrete Vorteile für das Tessin herausholen könne, sagt Speziali. Die Aufregung rund um den Verzicht auf das Ständemehr hält er für überzogen – auch wenn er selber dieses befürwortet: «Das ist weder ein Angriff auf das Tessin noch auf die Demokratie. Cassis verdient Lob dafür, dass er im schwierigen EU-Dossier endlich Resultate vorlegt, die deutlich besser sind als das gescheiterte Rahmenabkommen.»
Es ist gut möglich, dass Cassis diese Botschaft heute Freitag selber in seine Heimat trägt – er trifft sich mit der Tessiner Kantonsregierung zu einem Austausch über aktuelle Themen. (aargauerzeitung.ch)