Er wolle den Begriff Brexit nicht mehr verwenden, soll Premierminister Boris Johnson nach dem triumphalen Wahlsieg seiner Konservativen im Dezember 2019 gesagt haben. Ende Januar 2020 erfüllte er sein Wahlversprechen «Get Brexit Done», der Austritt aus der Europäischen Union wurde vollzogen. Nun wollte Johnson nach vorn schauen.
Seine turbulente Amtszeit ist längst Geschichte, und sein Wunsch erfüllte sich nicht. Der Brexit beschäftigt Grossbritannien bis heute, denn das Fazit fünf Jahre nach dem EU-Austritt ist ernüchternd. Der erhoffte Wirtschaftsboom ist ausgeblieben und die Zuwanderung ins Königreich – das wichtigste Motiv für das knappe Ja im Juni 2016 – regelrecht explodiert.
Eine Mehrheit der Briten bereut heute den Brexit, doch eine Rückkehr in die EU ist für die seit bald einem Jahr amtierende Labour-Regierung von Sir Keir Starmer kein Thema. Dafür sind die Wunden zu wenig verheilt und die Abwehrreflexe von rechts zu virulent. Eine verstärkte Partnerschaft mit der EU aber hat für den Premierminister höchste Priorität.
Anfang Februar nahm er als erster Regierungschef seit dem Brexit an einem EU-Gipfel als Gast teil, und am Montag empfing er Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen und Ratspräsident António Costa in London zu einem weiteren Treffen. Dabei einigte man sich auf einen «historischen Deal», wie es an einer gemeinsamen Medienkonferenz hiess.
Das wirkt etwas weit hergeholt, denn eine erneute Integration in die Zollunion oder gar in den Binnenmarkt soll es für die Briten weiterhin nicht geben. Es geht darum, den Waren- und Personenverkehr zu erleichtern und die entstandenen Zollhürden zu senken. Einiges aber bleibt vage und muss in weiteren Gesprächen konkretisiert werden.
Immerhin sollen die Briten einfacher in die EU-Länder einreisen, indem die E-Gates für sie geöffnet werden. Und junge Menschen aus der EU sollen für eine begrenzte Zeit in Grossbritannien leben und arbeiten oder studieren können. Gerade dieser Punkt aber bleibt umstritten, denn das sogenannte Youth Mobility Scheme ist für die Briten ein heisses Eisen.
Es geht um das Reizthema Migration. Erst letzte Woche kündigte Keir Starmer an, die anhaltend hohe Zuwanderung deutlich reduzieren zu wollen. Er steht dabei unter Druck der Opposition aus Tories und der rechtspopulistischen Partei Reform UK. Für «sensible» Bereiche wie das Gesundheitswesen und die Tech-Branche soll es aber weiterhin Ausnahmen geben.
Es ist das Dilemma aller «klassischer» Industrieländer – auch der Schweiz. Das Thema Migration sorgt für rote Köpfe und gibt rechten Parteien Auftrieb, gleichzeitig wird über Fachkräftemangel geklagt. Ebenfalls an die Schweizer EU-Debatte erinnert der Streit um die nationale Souveränität. Im Fall der Briten geht es unter anderem um den Fischfang.
Die volle Kontrolle über die eigenen Gewässer war ein wichtiges Argument für den Brexit. Nun aber sollen EU-Fischer für weitere zwölf Jahre Zugang erhalten, wofür sich Frankreich stark gemacht hatte. Reform-UK-Chef Nigel Farage, der wichtigste Brexit-Vorkämpfer neben Boris Johnson, warnte empört vor einem «Ende der Fischindustrie» in Grossbritannien.
Dabei dürfte gerade sie von einer weiteren Vereinbarung profitieren, dem vereinfachten Handel mit Lebensmitteln. Britische Fischer liefern 70 Prozent ihrer Fänge in die EU, doch wegen der Zollkontrollen soll die Ware teilweise in den Lastwagen verrotten. Umgekehrt freuen sich britische Supermärkte über den einfacheren Import von Früchten und Gemüse aus der EU.
Die neuen «Zollschikanen» trugen dazu bei, dass die Inflation auf der Insel in den letzten Jahren höher war als in der Eurozone. Dennoch tobten rechte Politiker und Medien nach dem Londoner Gipfel. Die «Sun» beschuldigte Keir Starmer, er habe «den Brexit betrogen». Und die bislang glücklose Tory-Chefin Kemi Badenoch sprach von einer «Kapitulation».
Die Polemik steht in keinem Verhältnis zum Inhalt des EU-UK-Deals. Auch das erinnert an Schweizer Debatten. Deutlich nüchterner urteilt der «Economist», der den Brexit abgelehnt hatte. Für das Magazin ist die Vereinbarung «nur ein Anfang», denn 40 Prozent der britischen Exporte gehen weiterhin in die EU. Der Anteil der USA ist halb so hoch.
Der am Montag angestossene Prozess soll weitergehen, inklusive jährlicher Treffen. Man könnte vom Anfang eines bilateralen Wegs nach Schweizer Art sprechen. Der «Economist» erkennt Parallelen: «Die Schweizer verhandeln seit 30 Jahren fast durchgehend Deals mit der EU – und sie haben gerade einen neuen vereinbart, der noch ratifiziert werden muss.»
Für die Schweiz ist dies keine schlechte Nachricht. Sie zeigt aber auch, was man schon immer wusste: Der Brexit, also eine Abkopplung von der EU, kann kein Vorbild sein. Die Briten hatten damit nur Scherereien. Nun sucht man wieder Anschluss, auch in einem Bereich, der gerade besonders dringlich scheint: der Beschaffung von Rüstungsgütern.
Am Montag wurde eine Sicherheitspartnerschaft vereinbart, die britischen Unternehmen die Beteiligung an EU-Projekten ermöglicht. Auch in der Schweiz fordern Sicherheitspolitiker des Nationalrats den Bundesrat zu entsprechenden Verhandlungen mit der EU auf. Bei uns wie auch im Königreich stellt man fest: Ohne Brüssel geht es offenbar doch nicht.
Eigentlich nicht. Das ist einfach die universale Batze-und-Weggli-Mentalität, die leider nicht aufgeht. Wir wollen, dass das Gesundheitswesen dank Immigranten, die die schlechten Löhne akzeptieren, bezahlbar bleibt. Aber Immigranten, die wollen wir bitteschön nicht.
Und diese Mentalität zieht sich durch alle Themen: Wir wollen das Geld der Touristen im Luzern, aber wehe in Luzern hats Touristen. Wir wollen mit dem Auto/Zug schnell von A nach B kommen, aber eine Autobahn/Schiene in der Nähe? Nein, danke!