Aussage von Cassis zur EU gibt zu reden
Es ist die grosse Preisfrage in der Europapolitik: Welche sogenannten Ausgleichsmassnahmen verhängt die EU, wenn die Schweiz sich weigert, Brüsseler Recht zu übernehmen? Wie schmerzhaft fällt die Strafe aus, wenn das Volk bei einer Abstimmung Nein sagt? Die neuen EU-Verträge befinden sich derzeit in der Vernehmlassung. Eine Antwort auf die Preisfrage enthalten sie nicht.
Jetzt hat Aussenminister Ignazio Cassis die Katze aus dem Sack gelassen. In einem Interview mit der «NZZ am Sonntag» sagte der FDP-Bundesrat, die Schweiz werde mit der EU im Austausch sein über mögliche Ausgleichsmassnahmen: «Bei einer Volksabstimmung werden wir der EU vorher klar sagen, dass sie uns erklären muss, mit welchen Schritten von ihrer Seite her zu rechnen ist.»
Und: «Wie bei jeder Abstimmung würde der Bundesrat ausführen, was die Konsequenzen eines Ja oder Nein sind.» Mit anderen Worten: Die Stimmbürgerinnen und Stimmbürger sollen wissen, welche Sanktionen drohen, bevor sie eine EU-Regulierung verwerfen.
Pfister schlug Bussenpreisschild vor
Im Kern geht es bei dieser Thematik um den sogenannten Mechanismus zur Streitbeilegung, also um institutionelle Fragen. Ein paritätisches Schiedsgericht kann Ausgleichsmassnahmen verhängen, falls sich die Schweiz gegen eine Übernahme von EU-Recht sperrt. Dabei ist die Auslegung des Europäischen Gerichtshofs verbindlich. Betroffen sind die bestehenden Binnenmarktabkommen, zu denen neu auch Abkommen in den Bereichen Strom und Lebensmittelsicherheit zählen. Wenn die Schweiz zum Beispiel das Abkommen zur Personenfreizügigkeit verletzt, kann die EU auch mit Gegenmassnahmen in anderen Binnenmarktabkommen kontern, etwa bei den technischen Handelshemmnissen.
Die Streitbeilegung tangiert die direkte Demokratie, weil das Volk unter dem Damoklesschwert nicht näher definierter Ausgleichsmassnahmen zur Urne gebeten wird. Im März präsentierte Nationalrat Gerhard Pfister, damals noch Präsident der Mitte Schweiz, an einem Anlass in Schüpfheim LU eine Idee, wie man das strittige Thema adressieren könnte. Sie ähnelt dem Vorschlag von Cassis, mit einem wesentlichen Unterschied: Die EU gibt im Vorfeld einer Volksabstimmung bekannt, welche Ausgleichsmassnahmen sie nach einem Nein ergreift. Diese sind aber ausschliesslich finanzieller Natur. Es wäre also eine Art Bussenpreisschild gewesen.
Pfister kritisiert, der Bundesrat habe im Verhandlungsmandat nichts wissen wollen von einem solchen Mechanismus, der Transparenz schafft über die Folgen eines Neins. Wenn sich jetzt nichts mehr ändere, werde der Bundesrat im Abstimmungsbüchlein weiterhin nur sagen können, dass die EU Ausgleichsmassnahmen ergreife – aber nicht welche.
Kein gutes Haar an Cassis' Interviewaussagen lässt der Luzerner SVP-Nationalrat Franz Grüter: «Sie sind an Unterwürfigkeit kaum zu überbieten. Der Bundesrat bittet die EU, vor einer Abstimmung zu sagen, wie viele Ohrfeigen sie uns nachher verteilt.» Aussenpolitiker Grüter findet: Der Bundesrat hätte solche Regeln zur Streitbeilegung niemals akzeptieren dürfen.
Die Eigenständigkeit der Schweiz werde in wichtigen wirtschaftlichen und sozialen Fragen beerdigt. Grüter spricht von einem «klassischen Kolonialvertrag». Die Gegenpartei könne final und bindend darüber entscheiden, was in der Schweiz gelte und was nicht.
Nussbaumer: «Die EU wird nicht pokern»
Nationalrat Eric Nussbaumer (SP/BL), überzeugter Befürworter der weiterentwickelten EU-Verträge, reagiert freundlicher auf die jüngste Wortmeldung des Aussenministers – und hält es für möglich, dass die EU der Schweiz mögliche Ausgleichsmassnahmen bereits vor einer allfälligen Volksabstimmung kommuniziert.
Nussbaumer kann sich zwei Szenarien vorstellen, bei denen die EU reagiert. Erstens: Der Bundesrat erklärt der EU von sich aus, dass er eine Rechtsentwicklung nicht übernimmt. Zweitens: Das Parlament und/oder das Volk lehnen eine solche ab. Nussbaumer geht davon aus, dass die EU im ersten Fall schärfer reagieren würde – also dann, wenn der Bundesrat quasi auf direktem Weg zum Rosinenpicker würde und nicht von sich aus einen Ausgleich im Vertragswerk präsentieren würde. Im Streitbeilegungsmechanismus erkennt Nussbaumer aber Vorteile: «Die bilateralen Verträge werden nicht als Ganzes infrage gestellt.»
Und was sagt er zum Einwand, dass die EU vor einer Abstimmung den Preis für ein Nein mit extra scharfen Massnahmen in die Höhe treiben könnte? «Die EU wird nicht pokern, die EU-Staaten, insbesondere unsere Nachbarn, wollen ein stabiles Verhältnis, sonst hätten sie der Schweiz dieses massgeschneiderte Paket nie angeboten.» Komme es dennoch zu ungerechtfertigten Ausgleichsmassnahmen, so könne die Schweiz das paritätische Schiedsgericht anrufen. «Dieses kann die Ausgleichsmassnahmen zwar nicht stoppen, aber sie müssen verhältnismässig sein.»
Das Aussendepartement (EDA) teilt diese Einschätzung. Das neue Streitbeilegungsverfahren bringe Rechtssicherheit und vermeide Willkür, sagt Sprecherin Elisa Raggi. Zwar sei ein Austausch zu eventuellen Ausgleichsmassnahmen vor Abstimmungen nicht explizit in den institutionellen Regeln vorgesehen. Im Gemischten Ausschuss des betreffenen Abkommens könnten die Schweiz und die EU das aber thematisieren.
Sprecherin Raggi betont: Die EU kann erst Ausgleichsmassnahmen ergreifen, nachdem das Schiedsgericht eine Vertragsverletzung festgestellt hat. Drei Monate nach Mitteilung der Massnahmen würden sie in Kraft treten – falls sich im Gemischten Ausschuss nicht doch noch eine einvernehmliche Lösung findet. Und zu guter Letzt könne die Schweiz immer noch das Schiedsgericht anrufen. «Dieses System stellt sicher, dass allfällige Ausgleichsmassnahmen der Schweiz keinen unverhältnismässigen Schaden zufügen», so die EDA-Sprecherin.