Der ehemalige FDP-Ständeratspräsident ist in eine Erpressungsaffäre verwickelt. Diese begann mit einem Liebesbetrug. Und wenn starke Gefühle ins Spiel kommen, ist plötzlich alles möglich.
02.09.2025, 10:0202.09.2025, 10:02
Annika Bangerter, Stephanie Schnydrig / ch media
Er fiel tief, sehr tief. Bei Fritz Schiesser, ehemaliger FDP-Ständeratspräsident und früherer ETH-Ratspräsident, klickten im Juni die Handschellen. Zwei Monate lang sass der Glarner in der Untersuchungshaft im Kanton Waadt. Gemäss «NZZ am Sonntag», die den Fall publik machte, wird gegen ihn wegen versuchter Erpressung ermittelt. Zwischen Frühling und Herbst 2024 sollen bei der Familienstiftung Sandoz in Pully mehrere Erpresserschreiben eingegangen sein. Gezeichnet habe sie ein «Mr. X». Dieser verlangte von der Stiftung Geld, sonst würde er vertrauliche Dokumente der Stiftung veröffentlichen.
Fritz Schiesser war bis vor drei Jahren Präsident der Sandoz-Stiftung. Als er diese verliess, schrieb «Le Temps» von «strategischen Differenzen». Nun steht der ehemalige Präsident im Verdacht, in die versuchte Erpressung involviert zu sein. Wie ist das möglich?
Wie sein Umfeld berichtete, habe der Experte für Stiftungsrecht und Anwalt im Internet jemanden kennengelernt und sei eine Beziehung eingegangen. Für diese Liebe bezahlte er teuer. Und dies in zweifachem Sinne. So soll der frühere Spitzenpolitiker der Person Geldsumme um Geldsumme überwiesen haben. Schliesslich war sein gesamtes Vermögen weg. Was nach einem klassischen Romance-Scam-Fall klingt – also das Kennenlernen im Netz gefolgt von der grossen Liebe und dem finanziellen Desaster – trifft auf Fritz Schiesser nicht zu. Wie CH Media erfahren hat, traf der 71-Jährige die Person auch persönlich.
Steiler Aufstieg und Fall

Bild: KEYSTONE
Fritz Schiesser
Der Glarner Bauernsohn hat eine steile Karriere hingelegt. Er studierte Rechtswissenschaften und wurde Anwalt sowie Notar. Für die FDP sass er im Glarner Landrat und Ständerat. Zudem präsidierte er von 2008 bis 2019 den ETH-Rat.
«Dass der Kontakt nicht nur im virtuellen Raum, sondern auch physisch stattfindet, kommt beim organisierten Liebesbetrug im Netz selten vor. Die Täterschaft verspricht zwar ihren Opfern wiederholt Treffen, doch zu diesen kommt es in der Regel nicht», sagt Beatrice Kübli, Projektleiterin bei der Schweizerischen Kriminalprävention. Auch sonst sei der Fall Schiesser aussergewöhnlich. «Stellen Scammer fest, dass ihren Opfern das Geld ausgeht, versuchen sie in der Regel noch, sie davon zu überzeugen, bei Verwandten oder Bekannten etwas auszuleihen», sagt Kübli. Sie habe noch nie von einem Fall gehört, bei dem Scammer sich zwecks einer Erpressung bei ihren Opfern Dokumente erschlichen hatten, wie dies bei Schiesser stattgefunden haben soll.
Liebe löst einen neurochemischen Cocktail aus
Doch Liebesbetrug hat viele Facetten. Bereits zu Zeiten, in denen die Digitalität noch in weiter Ferne lag, trieben Heiratsschwindler und -schwindlerinnen ihr Unwesen. Selbst Nachrichtendienste wussten um die Macht der grossen Gefühle: So setzte etwa die DDR gezielt Agentinnen und Agenten ein, damit diese Liebesbeziehungen beispielsweise mit Mitarbeitenden von Ministerien oder Sicherheitsbehörden der BRD eingingen. «Romeofalle» respektive «Venusfalle» nennt sich diese Masche.
Ob Fritz Schiesser ebenso gezielt angegangen wurde, ist unklar. Er bestätigt lediglich den Vorwurf des Liebesbetrugs und die Untersuchungshaft. In einer Medienmitteilung hält er fest:
«Gleichzeitig bestreite ich ausdrücklich, mich strafbar gemacht zu haben.»
Fritz Schiesser
So ungewöhnlich der Fall ist, zeigt er: Je nach Lebenssituation und Vorgehen der Täterschaft kann ein Liebesbetrug jeden und jede treffen. Denn Liebe macht sprichwörtlich blind. Das bestätigt sogar die Wissenschaft.
Demnach nehmen Verliebte ihre Umwelt anders wahr. Sie denken ständig an die geliebte Person, idealisieren sie, sehnen sich nach ihrer Nähe und reagieren körperlich spürbar: mit Herzklopfen, Nervosität, Übermut und grosser Enttäuschung, wenn etwas schiefläuft.
Verantwortlich für diesen Ausnahmezustand ist ein regelrechter neurochemischer Cocktail, den das Gehirn im Zustand der Verliebtheit ausschüttet. Glückshormone wie Dopamin und Serotonin, dazu das sogenannte Kuschelhormon Oxytocin, durchfluten den Körper. Fachleute vergleichen diesen Zustand mit einer leichten Sucht oder wie unter Drogen, inklusive euphorischem Tatendrang und gesteigertem Risikoverhalten. Gleichzeitig wird in bestimmten Hirnregionen die Aktivität gedrosselt, etwa im präfrontalen Cortex, der für rationale Entscheidungen zuständig ist.
Schiesser geht es schlecht, er ist stationär in Behandlung
Eine aktuelle Studie der australischen Psychologen Adam Bode und Phillip Kavanagh, erschienen im Fachjournal «Behavioral Sciences», zeigt, dass beim Verliebtsein ein ganz bestimmtes biologisches System besonders aktiv wird: das Verhaltensaktivierungssystem. Es reguliert, wie stark wir auf positive Reize reagieren und ob wir motiviert sind, auf eine Belohnung hinzuarbeiten. Im Liebesrausch scheint dieses System auf Hochtouren zu laufen.
Für ihre Studie befragten Bode und Kavanagh rund 1500 junge Erwachsene, die frisch verliebt waren. Ihr Ergebnis: Je intensiver die romantischen Gefühle, desto aktiver zeigte sich das Verhaltensaktivierungssystem. Die besonders Verliebten verspürten mehr Energie, investierten mehr in die Beziehung und reagierten empfindlicher auf emotionale Signale wie Nähe oder Ablehnung.
Zwar fokussierte sich die australische Studie lediglich auf die Phase der frischen, romantischen Liebe – quasi den sogenannten «Honeymoon»-Effekt. Doch die Forschenden vermuten, dass sich das Verhaltensaktivierungssystem mit der Zeit verändert und sich das Gehirn nach und nach an den hormonellen Rausch gewöhnt. Die starken Glücksgefühle werden allmählich von ruhigeren Bindungshormonen wie Oxytocin abgelöst: Die Bindung bleibt, die ständige Aufregung des Verliebtseins jedoch verwandelt sich in eine emotional stabile Partnerschaft.
Stellt sich hingegen alles als ein riesengrosser Schwindel heraus, ist der emotionale Absturz brutal. Psychische Probleme bis hin zu Suizid können die Folgen sein. Auch Fritz Schiesser geht es schlecht. Er schreibt: «Sowohl die Veröffentlichung als auch die laufende Untersuchung belasten mich sehr. Aus diesem Grund bin ich stationär in Behandlung.» Weiter hält er fest, dass er sich zum laufenden Verfahren nicht äussere.
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