Ist Sepp Blatter offiziell zurückgetreten oder nicht? Das ist die alles entscheidende Frage vor dem FIFA-Kongress vom 26. Februar in Zürich. Nur falls die Frage eindeutig mit «Ja» beantwortet werden kann, ist es dem Kongress überhaupt möglich, rechtsgültig einen Nachfolger zu wählen. Recherchen der «Schweiz am Sonntag» zeigen nun:
1. Es gibt weder mündlich noch schriftlich eine verbindliche Rücktrittserklärung von Sepp Blatter. Sein Brief vom 5. Juni 2015, welcher der Schweiz am Sonntag vorliegt, reicht als solche nicht aus, da er kein Rücktrittsdatum nennt. Diesen Brief hat Blatter damals den 209 Fifa-Mitgliedsverbänden geschickt.
2. Sepp Blatter gedenkt gemäss verlässlichen Informationen nicht daran, noch vor dem Fifa-Kongress eine Rücktrittserklärung abzugeben. «I’ll be back», hat er im Dezember gesagt.
Ohne Blatters Kooperation sitzen die interimistischen Fifa-Machthaber ganz tief in der Patsche. Denn gemäss FIFA-Statuten kann der Kongress nur dann einen neuen Präsidenten wählen, wenn der amtierende Präsident offiziell zurückgetreten ist – oder wenn ihn der Kongress abgewählt hat. Eine Abwahl ist aber nicht traktandiert, und die Traktandenliste könnte nur mit einer Dreiviertelmehrheit vom Kongress abgeändert werden. Das dürfte schwierig sein, denn immerhin war es dieser Kongress, der Blatter noch im Mai des vergangenen Jahres klar wiedergewählt hat.
Die Fifa wird zwar zurzeit von Juristen geführt, aber ausgerechnet sie haben bei der Vorbereitung des Kongresses «geschlampt», wie es die deutsche «Sportbild»-Zeitung nennt. Sie zitiert den Sportrechtler Thomas Dehesselles, der sagt: «Ohne wirksame und schriftliche Rücktrittserklärung und ordnungsgemäss angekündigte formelle Abwahl könnte Blatter die Wahl eines Nachfolgers anfechten – sogar vor einem Zivilgericht und über mehrere Instanzen, da die Unterwerfung unter die CAS-Schiedsgerichtsbarkeit rechtlich problematisch ist.» Der CAS ist der internationale Sportgerichtshof. Das Fazit des Sportrechtlers: «Das würde Jahre dauern, die Fifa wäre dauerhaft ohne Präsident.»
Fakt ist: Die Ethikkommission hat Blatter zwar für acht Jahre gesperrt. Aber Blatter ist noch immer der vom Kongress gewählte FIFA-Präsident, wie er auch im Gespräch mit der «Schweiz am Sonntag» vor drei Monaten mehrfach betont hat. Es gibt kein anderes Gremium als den Kongress, das den Präsidenten des Amtes entheben kann, falls dieser nicht aus freien Stücken abtritt.
Bei der FIFA ist man der Ansicht, dass der Brief vom 5. Juni ein Rücktrittsschreiben darstelle und somit die Abwahl nicht traktandiert werden müsse. Irrtum – das findet auch die deutsche Sportrechtlerin Sylvia Schenk, Mitglied der Anti-Korruptions-Organisation Transparency International: «Blatter hat im Juni nur angekündigt, dass er bei einem ausserordentlichen Kongress zurücktreten will, ohne ein konkretes Datum zu nennen. Das ist zu vage», sagt sie. Hole er das nicht nach, dann bleibe er im Amt, bis der CAS das Verfahren abgeschlossen habe. Schenk hat ihren Befund der Fifa per E-Mail mitgeteilt.
Die ganze Fussballwelt wird in knapp drei Wochen nach Zürich schauen, wenn der 65. Fifa-Kongress stattfindet. Fünf Kandidaten interessieren sich für die Blatter-Nachfolge. Denkbar sind drei Szenarien:
Erstens: Weil kein Rücktritt Blatters vorliegt, wird die Wahl vertagt.
Zweitens: Die FIFA geht das Risiko ein und zieht die Wahl durch, mit der Folge, dass die FIFA zwei gewählte Präsidenten hätte und Blatter die Wahl anfechten könnte. Falls der CAS Blatter dereinst freisprechen sollte, würde er Präsident bleiben und die Wahl des neuen wäre nichtig.
Drittens: Blatter bekommt eine Auftrittsmöglichkeit vor dem Kongress – eine solche ist bislang nicht vorgesehen – und erklärt staatsmännisch vor der Weltöffentlichkeit doch noch seinen Rücktritt, und alles geht glatt über die Bühne. Klar ist, dass Blatter das dritte Szenario am liebsten wäre: Sein letztes Ziel als FIFA-Präsident ist es, einen würdigen Abgang zu erhalten. Gewährt ihm die FIFA einen Auftritt vor dem Kongress, der ihn seit 1998 fünfmal als Präsident gewählt hat, wäre das eine Art Versöhnung – und er würde den Weg für eine geordnete Amtsübergabe freimachen.