Der eine ist 18, der andere 36. Der eine ist Schauspieler, der andere Regisseur. Benjamin Lutzke und Simon Jaquemet, der Zürcher und der Basler, miteinander verbunden im Film «Chrieg». In der Geschichte des 16-jährigen Matteo aus dem Einfamilienhausquartier, der seine Eltern mit einem Callgirl und manch anderem schockt und in die Berge ins Erziehungscamp verfrachtet wird. Wo er zuerst als Hund lebt. In einem Zwinger. Im Regen.
Die Hundehalter sind allerdings keine Brutalopädagogen, sondern die Problemjugendlichen selbst. Sie haben übernommen. Ein Mädchen, das als Junge lebt, ist auch dabei. Als sie ins Unterland zurückkehren ist ihre Mission fürchterlich und radikal. Aber im Grunde gerecht. Sie übernehmen.
«Chrieg» ist ein enorm junger Film voller Kraft. Voller Gewalt, Geheimnisse und der Farbe Blau. Matteos Haare sind blau. Die Berge sind blau. Sehnsucht und Melancholie sind blau. Die Liebe ist ein blaues Gefühl. Gewalt ist rot. Ist ein Auto, das in Flammen aufgeht. Ein Südtiroler Auto übrigens, auch wenn der Schauplatz Zürich ist. «Wir hatten einen Förderbeitrag vom Südtirol erhalten, den haben wir da verprasst», sagt Jaquemet.
Die beiden sitzen einander gegenüber, in einem Hinterhof-Office in der Nähe der Zürcher Sihlcity. Benjamin Lutzke hat gerade ein Praktikum absolviert als Pfleger im Epilepsiezentrum, einen Pflegeberuf könnte er sich vorstellen, aber nur sehr theoretisch, es reisst ihn gerade schon sehr zu einer Karriere als Schauspieler. Also nicht einfach Schauspieler, sondern Filmstar. Beim Theater mag er «das Endprodukt» nicht.
Ausser Film habe er «nix im Kopf, schrecklich, eigentlich», aber: «Ich kann das.» An Arbeit mangelt es ihm vorerst nicht, vor allem Deutschland interessiert sich für ihn. Was ist Simon für Benjamin? «Ein Genie.» Und umgekehrt auch ein bisschen? «Ein bisschen.»
Gefunden haben sie einander vor zwei Jahren am Zürcher Hauptbahnhof. Benjamin hatte damals die gleiche Frisur wie Matteo, bloss orange, und Simon ging auf ihn zu wie ein Model-Agent, gab ihm seine Karte und sagte: «Komm zum Casting.» Benjamin fand das erst «megakomisch» und fragte sich, ob es sich «um einen perversen Typen» handeln würde.
Aber er hatte Zeit. Er hatte gerade seine Lehre als Lüftungsplaner geschmissen. Benjamins Eltern fragten sie erst um Erlaubnis, als alles klar war. Benjamins Vater ist Programmierer, seine Mutter berät Eltern von Problemkindern. «Und dein Elternhaus sieht aus wie das Elternhaus im Film», sagt Simon. «Nein! Sicher nicht!» «Doch, der Style.»
Die Wut des Matteos, die hat Benjamin auch gekannt, sagt er. Aber Autos angezündet hat er keine, bloss «Stress gemacht», in der Schule, daheim. Und Simon? Der träumte früher davon, ein Heimkind zu sein. Sein Vater war ein experimenteller Biobauer auf einem Schau-Hof der ehemaligen «Grün 80», jenem riesigen, überidyllischen Garten-Ausstellungsareal vis-à-vis vom St. Jakobs-Park. Die ganze «Grün 80» war Simons Spielplatz, inklusive der riesigen Saurierskulptur.
Aber manchmal arbeitete der Vater auch in einem Kinderheim in Zürich. Und Simon, der Pseudobauernbub, dessen Hof ständig von Besuchern überschwemmt wurde, stellte sich das grossartig vor, ein Haus mit vielen andern Kindern. Dann hörte er als Jugendlicher auch noch die Geschichte eines Ferienlagers in den Bergen, das von den Betreuern aufgegeben wurde, die Kinder mussten zu sich selbst schauen. Er fand das eine «paradiesische Traumvorstellung». «Chrieg» hatte seine Urszene gefunden.
In «Chrieg» endet allerdings jeder Paradies-Versuch in der Hölle. Die Baby-Szene ist dafür symptomatisch. Sie steht ziemlich am Anfang des Films, Matteo geht da in den Wald mit seinem kleinen Geschwisterchen, das er eigentlich sehr gerne hat. Allerdings auch ein wenig fürchtet. «Bisch du en Fründ, wänn du gross bisch?», fragt er das Baby und zeigt ihm ein äsendes Reh. Und rennt aus lauter Freude mich ihm durch den Wald. Mehr Idylle geht nicht. Er stolpert, lässt das Baby fallen, als er es wieder aufhebt, ist der kleine Kopf voll Blut. So ist «Chrieg».
Dass sie jetzt als neue Helden des Schweizer Films gehandelt werden und fünfmal für den Schweizer Filmpreis nominiert sind, findet Simon natürlich sehr cool, aber von Dauer sei das sicher nicht, beim nächsten Förderantrag, den er stellen müsse, sei es wahrscheinlich schon wieder vergessen.
Aber jetzt zeigen er, Benjamin und die andern jungen Laienschauspieler, deren Dialoge oft so streetsmart und lustig sind wie nichts, was man im Schweizer Film in den letzten Jahren zu hören bekam, erst einmal, wo die hiesigen Filmbartlis ihren Most auch noch holen könnten.
Denn «Chrieg» – da wiederholen wir jetzt unsere Beobachtungen von den Solothurner Filmtagen – ist ultrahart und rabiat. «Chrieg» ist laut. Und «Chrieg» zeigt doch in alledem ganz zart das Kaleidoskop der Verletzlichkeit, in dem so ein pubertierender Mensch gefangen ist. «Chrieg» ist Stadt und Land, Schweiz und Migration, Liebe, Terror, Techno. Eine grosse Geschichte in grossen Bildern. Und jetzt auch endlich dort, wo er hingehört: in unseren Kinos.
«Chrieg» läuft ab 12. März im Kino.