Es gibt es jetzt also doch, das Filmfestival Locarno. Ehrlich? Ja! Vom 5. bis zum 15. August. Es wird ein sogenannter «Hybrid». Ein Festival fast ohne alles, aber mit erheblicher digitaler Erweiterung. Es wird: ein Festival ohne Stars und rote Teppiche, ohne Freiluftkino auf der Piazza Grande mit seinen 8000 Plätzen, ohne Herz und Zentrum, und wenn alles schief läuft auch noch ohne Publikum vor Ort. Denn Filme werden in Locarno sehr wohl gezeigt. Es wird ein Event, aber nicht der übliche Gesellschaftsevent. Es wird ein Experiment.
Wirtschaftlich ist die Rumpfausgabe von 2020 nicht unter Druck, Jobs konnten gesichert werden, der Hybrid kostet so viel wie ein halbes normales Festival. Und die Direktorin Lili Hinstin ist bei unserem Treffen in Zürich ungemein entspannt.
Ende April hiess es noch, das Filmfestival Locarno werde gar nicht stattfinden. Jetzt irgendwie doch. Ist ein Wunder passiert?
Lili Hinstin: Wir sagten schon Ende April, dass wir jede Möglichkeit für physische Vorführungen während der geplanten Festivaltermine packen würden. Als die Schweizer Kinos im Juni wieder aufgingen, sagten wir, okay, machen wir das. Wir holten ein Festival, das wir schon fast begraben hatten, von den Toten zurück.
Die Zahl der Neuinfektionen steigt, wir scheinen auf direktem Weg in die Zweite Welle. Macht Ihnen das keine Angst?
Doch. Uns war immer bewusst, wie riskant das ist. Es kann sein, dass das Festival in seiner Halbzeit abgebrochen werden muss, wir wissen es einfach nicht. Es ist ein Balanceakt: Einerseits nehmen wir alle Sicherheitsvorschriften sehr, sehr ernst, andererseits erlauben wir, dass da etwas lebt. Natürlich hätten wir auch dieses hybride, kleine Festival noch bleiben lassen können, aber das wäre Locarno und unserem Publikum gegenüber höchst unfair gewesen.
Wen erwarten Sie denn eigentlich im Publikum? Die übliche Festival-Crowd wird heuer grösstenteils ausbleiben, gleichzeitig ist das Tessin voller Touristen.
Und genau das ist für mich das Aufregendste! Es gibt drei Gruppen von Publikum: Die Filmbranche; die Cinephilen, die alles schauen und kennen und oft ins Kino gehen; und die Touristen, die sagen, ey, wir sind da und es laufen Filme, gehen wir hin! Letztere finde ich am interessantesten, sie sind neugierig und grosszügig, und können am ehesten überrascht werden. Und Überraschungen sind doch die Essenz eines Filmfestivals!
Vielleicht verschlägt es ja ein paar Leute vom Campingplatz ins Arthouse-Kino?
Das wäre grossartig! Als Programmmacherin vertraue ich darauf, dass ich dem Publikum etwas Gutes vorsetze. Etwas, für das es sich lohnt, Zeit aufzuwenden. Natürlich wird es welche geben, die das nicht mögen, es wäre ja schrecklich, wenn alle den gleichen Geschmack hätten. Alle Filme, die wir in Locarno zeigen, sind zugänglich. Einige sind anspruchsvoll, aber immer zugänglich.
Trotzdem: Die Locarno-Filme, die man am ehesten als Crowd-Pleaser bezeichnen kann, wurden bisher eher auf der Piazza gezeigt. Die fällt heuer aus. Wo finde ich sowas?
Zum Beispiel in meinen «Secret Screenings». Da erfährt man erst, was läuft, wenn man im Kino sitzt. Da gibt es Altes, Neues, Brandneues, auch Weltpremieren. Meine Programme mache ich für einen Ort und einen Kontext. Aber nicht für ein bestimmtes Publikumssegment. Das finde ich herablassend. Fast alle sind intelligent und manchmal hat Intelligenz nichts mit Wissen zu tun. Jemand kann alles übers Kino wissen und dumm sein. Ich will intelligente und emotionale Filme mit dem Publikum teilen.
Normalerweise sind in Locarno die Säle voll, jetzt könnte es aber auch sein, dass sie ganz leer bleiben.
Ja, das könnte sein. Aber wer weiss, vielleicht wird es auch wieder so heiss, dass die Leute im Kino nach Abkühlung suchen? Die Frage mit den leeren Sälen kenne ich, davor hatte ich früher bei jedem Festival, für das ich schon gearbeitet hatte, Angst. Aber nicht bei Locarno, das ist ein Sommerfestival und man kann sich darauf verlassen, dass es überlaufen ist. Jetzt ist alles ein grosses Rätsel. Allerdings gibt es in unseren drei Kinos wegen den Schutzkonzepten weniger Plätze, so dass sie also schon «voll» werden sollten.
Wie erlebten Sie eigentlich 2019? Das war Ihr erstes Jahr als Direktorin, man sah Sie immer bei mondänen Auftritten mit selbstgedrehten Zigaretten.
Es war verrückt! Zuvor hatte ich Locarno seit Jahren als Zuschauerin gekannt. Was übrigens ein guter Weg ist, einen neuen Job anzufangen: Man sollte die andere Seite kennen. Und es war überwältigend! Es kam mir unwirklich vor. Zum Glück musste ich so viele Termine absolvieren, dass ich gar keine Zeit hatte, gross über mich nachzudenken. Sonst wäre ich gestorben vor Angst.
Abgesehen von den Vorstellungen mit beschränkter Platzanzahl findet das Festival 2020 vorwiegend im Internet statt. Wie dankbar sind Sie dafür, dass wir im durchdigitalisierten Zeitalter leben?
Hmmm, ich sehe die Dinge nicht so. Man arbeitet eben mit dem, was da ist. Aber ich wäre genauso glücklich damit, reine Kinovorstellungen zu programmieren.
Weil Sie an die Kollektiverfahrung Kino glauben?
Nein, Kino kann genauso gut kollektiv wie individuell konsumiert werden. Ich finde es eher erschreckend, wie schnell wir uns immer an alles gewöhnen, das uns angeboten wird und verspricht, unser Leben zu verbessern. Wir denken nicht darüber nach und verändern uns. Als ich jung war, gab es kein Internet und keine Handys, wir klingelten bei unseren Freunden, das war unerwartet und lustig. Als ich in einer kleineren Stadt in Italien studierte, gingen wir immer alle zur Apérozeit auf die Piazza und wussten, da finden wir uns. Es macht Spass, sich überraschen zu lassen. Trotzdem: Ich bin nicht gegen Plattformen, aber ich finde dieses Algorithmus-Dings extrem schlecht und gefährlich.
Weil da Filme und Serien aufgrund unserer Bedürfnisse gebaut werden und wir unsere Erwartungen erfüllt sehen und nicht mehr wirklich überrascht werden?
Ja! Es ist doch so: Die Medien verlangen immerzu, dass wir unsere «Komfortzone verlassen», dass etwas «stören» solle. Dabei bedienen sie doch ausschliesslich diese Komfortzone! Blasen und Komfortzonen! Das klingt jetzt harmlos, ist es aber nicht. In Frankreich hat neulich eine Journalistin recherchiert, wie eine Dating-App mögliche Matches einander zusortiert: Junge Frauen werden mit älteren Männern kombiniert ...
... haha, wie in einem alten französischen Arthouse-Film!
Genau! Und wer in einem Kommentar als «superschön» bezeichnet wird, kriegt Vorschläge, unter denen auch superschön steht. Wer «ugly» ist, kriegt ugly. Und alles unter dem Vorwand, dass unser Leben damit verbessert und vereinfacht wird. Der Algorithmus vollzieht Projektionen, die ideologisch geprägt und inakzeptabel sind. Deshalb bin ich dagegen, dass Algorithmen unser Leben bestimmen.
Zurück zum Festival: Wie sehr fühlten Sie sich eigentlich versucht, eine Sektion mit Seuchen-Filmen zu programmieren?
Kein bisschen. ich hatte mal Lust, Filme zum Thema Ansteckung zusammenzustellen. Ansteckung in einem philosophischen Sinn, nicht mit Viren. Aber dann liess ich es wieder sein.
Was bedeutet Locarno 2020 eigentlich?
Es hat natürlich vor allem seine symbolische Bedeutung. Besser als nichts. Und so wie ich es jetzt erfahre, sind die Leute sehr dankbar, dass wir unter diesen schwierigen Umständen ein Zeichen setzen. Und ganz konkret in der Sektion «Films After Tomorrow» auch Filme mit Präsenz und Preisen unterstützen, die wegen Covid-19 ihre Produktion stilllegen mussten. Denen können wir wieder etwas auf die Beine helfen.
Das 73. Filmfestival von Locarno zeigt neben den beiden hier erwähnten «Secret Screenings» und «Films After Tomorrow» wie gewohnt einen internationalen Langfilm-Wettbewerb und den Kurzfilm-Contest «Pardi di Domani». Die Teilnehmenden der «Films After Tomorrow» durften zudem einen Lieblingsfilm aus der Festivalgeschichte auswählen. Zu sehen unter «A Journey in the Festival's History»