Anfang Mai in Holziken. Bundesrätin Viola Amherd hat die Einladung angenommen, in der Mehrzweckhalle einen Vortrag zu halten. Im Dorf im Südwesten des Aargaus erreicht die SVP einen Wähleranteil von 66 Prozent. Man gibt hier viel darauf, besonders kritisch zu sein gegenüber den Autoritäten. Wie verhalten sich die Holzikerinnen und Holziker, wenn eine Bundesrätin das Dorf besucht? Eine Magistratin dazu, die nicht der SVP angehört, sondern der Mitte.
Die Leute springen von ihren Stühlen, als Amherd die Halle betritt. In den Gesichtern zeigt sich Freude und Stolz. Es sind Standing Ovations wie für einen Popstar. Und als die Verteidigungsministerin in ihrem Referat behauptet, dass der Bundesrat keineswegs überrascht worden sei vom Krieg gegen die Ukraine, hört man in der Halle kein Murren. Obwohl viele wissen, dass Amherd Unsinn erzählt.
Die Schweizerinnen und Schweizer pflegen eine innige Beziehung zu ihrer Regierung. Umfragen zeigen, dass keiner anderen demokratischen Institution mehr Vertrauen entgegengebracht wird. Bundesratswahlen, wie sie in der kommenden Woche anstehen, sind ein Ereignis. Man spricht darüber in der Familie und mit Freunden. Mehrere Politologen ziehen einen Vergleich zu Königsfamilien: Die Sympathie der Schweizer für die Bundesräte erinnere an die Zuneigung, die Briten und Nordeuropäer für ihre Royals hegten.
Dagegen spricht allerdings, dass viele Landesbewohner Mühe bekunden, die sieben Mitglieder des Bundesrats zu nennen. Noch schlimmer wird es, wenn man jemanden fragt: «Wer war ein grosser Bundesrat? Wer hat Grosses geleistet?» Wahrscheinlich lautet die Antwort: «Das habe ich mir noch nie überlegt.»
Genau Bescheid über den Bundesrat weiss der Historiker Urs Altermatt. Er ist Bundesratologe. Im ersten Band seiner Geschichte des Regierungskollegiums erwähnt er ein Kompendium mit dem Titel «Grosse Schweizerinnen und Schweizer», erschienen 1991 zum 700-Jahr-Jubiläum der Eidgenossenschaft. Es enthält 100 Porträts. Wie viele davon handeln von einem Bundesrat? Ein einziges.
Friedrich Traugott Wahlen war Bundesrat von 1959 bis 1965. Er ist bekannt für den «Plan Wahlen», die sogenannte Anbauschlacht, mit der die Schweiz die Eigenproduktion von Nahrungsmitteln steigerte. Das war in der Zeit des Zweiten Weltkriegs. Wahlen arbeitete damals als Agrarexperte und war noch nicht Bundesrat.
Zu den grossen Schweizern zählen Zwingli, Pestalozzi, Dufour, Escher, Guisan, Dürrenmatt – und wo sind die Bundesräte? Gab es unter ihnen keine herausragenden Figuren? Warum erinnern sich die Schweizerinnen und Schweizer nicht an sie?
«Die hohe Wertschätzung bezieht sich vor allem auf das Amt, weniger auf die Personen», sagt Francis Cheneval. Er ist Professor für Politische Philosophie an der Universität Zürich und sagt, die Institution des Bundesrats stehe für die geglückte Revolution von 1848, für die Gründung eines demokratischen Bundesstaates mitten im monarchistischen Europa. Im Bundesrat zeigten sich die Konsensdemokratie, der Föderalismus, die Einbindung möglichst breiter Kreise. In der Schweiz habe sich dieses politische System, das kein anderes Land anwende, bewährt. Darum liessen die Schweizer nichts auf den Bundesrat kommen.
Zu verdanken hat die Schweiz diese Exekutive den Franzosen. Das Direktorium, ein fünfköpfiges Kollegialorgan, war eine Regierungsform der Französischen Revolution. Als die Schweiz in der Zeit der Helvetik von 1798 bis 1803 eine französische Tochterrepublik wurde, gab es auch hier ein Direktorium. Die Kantone setzten Exekutiven ein, die ähnlich funktionierten. Also entschieden sich die Verfassungsväter für eine Regierung nach diesem Modell.
Es gibt keinen Regierungschef, und es gibt kein Staatsoberhaupt. Die Mitglieder des Bundesrates entscheiden gemeinsam und vertreten die Beschlüsse gemeinsam als Kollegialbehörde. In den ersten Jahrzehnten nach 1848 war die breite Einbindung nur geografisch gemeint – die im Sonderbundskrieg siegreichen Liberalen und Radikalen blieben im Bundesrat unter sich. Mit der Wahl des ersten Katholisch-Konservativen in die Regierung wurde die Konkordanz 1891 auch politisch praktiziert: Die grossen Parteien sollen im Bundesrat vertreten sein.
Zum Respekt, den die Bevölkerung der Landesregierung entgegenbringt, trägt deren Stabilität bei. Es gab in den vergangenen 174 Jahren nur sehr wenige Änderungen am System. Anfänglich sollte Mitglied des National- oder Ständerats sein, wer Bundesrat werden wollte. Diese Bestimmung wurde bald fallengelassen wie auch die Praxis, dass der Bundespräsident jeweils sein Departement abgab und für die Aussenbeziehungen zuständig war.
Der Bundesrat ist stabil, aber besonders stark ist seine Stellung als Regierung nicht. Zur Machtbrechung tragen bei: eine permanente Koalition von Parteien, die ganz unterschiedlich ausgerichtet sind. Die wichtige Rolle des Parlamentes. Und das System der halbdirekten Demokratie. Das Volk kann Vorlagen des Bundesrates abschiessen oder selber neue Bestimmungen auf den Weg bringen. Das führt dazu, dass sich die Regierung stets überlegen muss: Ist im Volk mehrheitsfähig, was wir da aushecken? Die direktdemokratischen Elemente stärken andererseits das Vertrauen in den Bundesrat: Das Volk weiss, dass es die Exekutive ausbremsen kann, sollte sie ein unliebsames Projekt vorantreiben.
Seit der Gründung des Bundesstaates beklagten sich Beobachter darüber, dass sich im Bundesrat eher durchschnittliche Politiker versammelten. Der britische Historiker Christopher Hughes schreibt von «leadership by the second best». Eine Ausnahme war ohne Zweifel Ulrich Ochsenbein, der die Bundesverfassung wesentlich beeinflusste und der ersten Regierung angehörte. Er wurde aber 1854 abgewählt. Die Radikalen mochten ihn nicht, weil er sich erfolgreich gegen ein zentralistisches Staatsmodell gewehrt hatte.
In einem System, das auf den Ausgleich bedacht ist, tun sich Figuren schwer, die dominant auftreten. Als Bundesrat ist erfolgreich, wer es schafft, politische Kompromisse herbeizuführen. Alfred Escher, überragende Figur des 19. Jahrhunderts, wurde von Kritikern als «König Alfred I.» verschrien. Er hätte sich schwergetan in der Kollegialbehörde. Im Bundesrat folgte eine graue Maus der anderen. Gewissenhaft spulten sie die Regierungstätigkeit ab, fielen nie durch einen grossen Plan auf, waren aufgrund ihrer Funktion hochgeachtet in der Bevölkerung. Und nach dem Rücktritt vergass man sie.
Zwei weitere Faktoren tragen zur Nivellierung bei: Die Bundesräte werden vom Parlament gewählt. Entscheidend sind die Stimmen von Parlamentariern, die einer anderen Partei angehören als die Kandidaten. Ein Nationalrat, der nicht genannt werden will, sagt: «Nehmen wir an, diese andere Partei schlägt zwei Personen vor: eine fähige und eine weniger fähige. Wen wähle ich? Die Pfeife, das ist ja klar.» Auf den Einwand, dass er damit das Landesinteresse vernachlässige, entgegnet er: «Landesinteresse? Mein Gott, wie naiv!»
Ausserdem haben die Bundesräte ein Departement zu führen. Die Abteilungen der Bundesverwaltungen sind enorm gewachsen. Bundesräte, die nicht auf starke Amtschefs setzen und Mikromanagement betreiben, verlieren sich leicht im bürokratischen Dickicht. Die eigentliche Regierungsarbeit im Kollegium leidet darunter.
Wer waren denn nun die grossen Bundesräte – neben Ochsenbein? Oft genannt werden Kurt Furgler und Willi Ritschard. Wobei kaum jemand sagen kann, welches ihre politischen Erfolge waren. Im Bundesrat wird ein ausserordentliches persönliches Engagement stets vom Wirken der Kollegialbehörde überdeckt. Wer ist der Vater der Neat? Es gibt deren viele.
Furgler trug zur Schaffung des Kantons Jura bei, trat in verschiedenen Sprachen geschliffen auf und war ein galanter Gastgeber, als sich Ronald Reagan und Michail Gorbatschow 1985 in Genf trafen. Und Willi Ritschard hatte Hände wie Bratpfannen. Ein Heizungsmonteur, ein Büezer im Bundesrat, der als volksnah galt und mit klugen Aussprüchen auffiel. Zu Kollege Leon Schlumpf sagte Ritschard:
Am kommenden Mittwoch werden zwei neue Bundesräte gewählt. Sollten sie je die Gemeinde Holziken im Aargau besuchen – die lokale Bevölkerung wird begeistert sein. Darüber, dass sie die Repräsentanten der funktionsfähigen eidgenössischen Republik zu Gesicht bekommen. Wer genau das ist, spielt keine Rolle. (aargauerzeitung.ch)