Es ist ein Satz, der derzeit fast jeden Parteitag beschreiben könnte: «Viele Mitglieder sehnen sich nach Aufbruch und Neuanfang. Der Generationswechsel, der Abschied von den Älteren, steht an.» Landauf und landab stellen die Kantonalparteien die Weichen für die eidgenössischen Wahlen im Herbst 2019.
«Aufbruch und Neuanfang», das tönt verlockend. Doch der Satz bezieht sich nicht auf die Schweiz. Er stammt aus der aktuellen Titelgeschichte des Hamburger Nachrichtenmagazins «Der Spiegel». Darin befasst sich ein Autorenteam um die Journalistin Christiane Hoffmann mit der Krise der deutschen Volksparteien. In der Union und der SPD gärt es, das Spitzenpersonal ist seit Jahren dasselbe. Wie kann der personelle Neuanfang gelingen?
Just Hoffmanns Ehemann ist es, der diesbezüglich einen ungewöhnlichen Weg beschreitet: Tim Guldimann, SP-Politiker, Ex-Spitzendiplomat und Auslandschweizer mit Wohnsitz Berlin, räumt nach nur zwei Jahren seinen Sessel im Nationalrat. Der 67-Jährige schreibt in seiner Rücktrittserklärung unter anderem, er könne das Mandat in Bern nicht mehr mit seiner Familiensituation unter einen Hut bringen. «Meine Frau hat mir für meine diplomatische Karriere den Rücken freigehalten. Warum nicht mal umgekehrt?» Überhaupt sollten politische Rücktritte «besser zu früh als – wie meistens – zu spät» erfolgen, stichelt Guldimann.
Das wiederum sind Sätze, die sich in Guldimanns Partei viele zu Herzen nehmen könnten. Denn gleich in mehreren Kantonen tobt eine wüste Personaldebatte in der SP. Es geht um die Frage: Wie lange soll jemand im Amt bleiben dürfen?
Vor allem aber geht es um Sesselkleberinnen und Postenschacherer. Guldimanns vorzeitiger Rücktritt ist geradezu atypisch. Auffällig viele SP-Parlamentarier sind trotz langer Amtszeit nicht bereit, ihren Sitz vorzeitig zu räumen. Und einige Langzeit-Volksvertreter liebäugeln sogar damit, 2019 nochmals anzutreten. Die Sozialdemokraten beweisen am meisten Sitzleder im Bundeshaus, wie eine aktuelle Auswertung verdeutlicht: Die Mitglieder ihrer 54-köpfigen Bundeshausfraktion sind im Schnitt seit 10.1 Jahren im Amt.
In der SP läuft die Diskussion um vorzeitige Rücktritte besonders heftig. In Basel wurde Silvia Schenker (64) von Parteikollege Ruedi Rechsteiner öffentlich auf Facebook attackiert: «Wann lesen wir von deinem Rücktritt? Wir warten. Und wir sind viele. Ein bisschen Anstand stände dir gut an. Wenigstens ein bisschen.» Schenker wird die Legislatur beenden, genau so wie Bea Heim (71). In Solothurn hatte sich quasi die ganze Parteispitze gegen die Gesundheitspolitikerin gewandt, um den vorzeitigen Rücktritt zu forcieren.
In Graubünden begannen die Diskussionen um den vorzeitigen Rücktritt von Silva Semadeni (66) am Tag ihrer Wahl: Denn auf der Wartebank sitzt mit Jon Pult ein potenzieller Nachfolger von SP-Parteipräsident Christian Levrat. Der Druck wirkte nicht — Semadeni macht bis 2019 weiter. Auch die Baselbieterin Susanne Leutenegger Oberholzer (69) lässt sich nicht beirren. Sie lässt gar offen, ob sie nochmals zur Wiederwahl antritt. Die Beispiele zeigen nicht nur, dass Druck bei den Betroffenen meist Widerstand auslöst und kontraproduktiv ist. Sondern auch, dass die ärgsten Feinde in der eigenen Partei sitzen.
Öffentlich gewordene Druckversuche sind nicht im Sinne der Parteien. Logisch, denn die Nationalräte sind nicht ihrer Partei, sondern den Wählern verpflichtet — für die Dauer einer Legislatur. Druckversuche haben etwas Undemokratisches an sich. Offiziell tönt es denn auch bei allen Generalsekretariaten gleich: Der Rücktritt sei eine persönliche Angelegenheit der Betroffenen. Aber man analysiere die Ausgangslagen für die nächsten eidgenössischen Wahlen jeweils mit den Kantonalparteien. Das ist sehr vornehm ausgedrückt. Zumindest bei Bea Heim ist bekannt, dass SP-Chef Levrat persönlich das Gespräch gesucht hat.
In der Berner SP gibt es derweil einen Ehrenkodex, den alle Kandidierenden unterschreiben müssen. Sie verpflichten sich für einen Einsatz zum Wohle der Partei. Und dieser beinhaltet eben auch, Hand zu bieten für gute Nachfolgeregelungen. Sesselkleber sollen sich nicht aus der Verantwortung stehlen können.
Wie die meisten Kantonalsektionen der SP kennen auch die Berner eine Amtszeitbeschränkung: Nach 16 Jahren ist Schluss. So steht die 64-jährige Margret Kiener Nellen am Ende ihrer Politkarriere. Dass sie nicht jetzt zurücktritt, bei Halbzeit der Legislatur, sorgt intern für Unmut. Ihr Beispiel zeigt, dass selbst schriftliche Abmachungen manchmal das Papier nicht wert sind, auf dem sie stehen.
Wer hat, dem wird gegeben: Das Interesse an vorzeitigen Rücktritten hat viel mit dem Bisherigen-Bonus zu tun. Tatsächlich ist dieser der wichtigste Erfolgsfaktor, um ins Parlament zu kommen. Rund vier von fünf Bisherigen werden jeweils wiedergewählt. Das zeigt eine Untersuchung des Lausanner Politikwissenschaftlers Georg Lutz, der die Ergebnisse der Nationalratswahlen von 1995 bis 2011 ausgewertet hat.
Die SVP freilich war zuletzt am häufigsten davon betroffen, dass Amtierende von Parteifreunden ausgebootet wurden. 2015 wurden allein in Zürich gleich drei altgediente Köpfe überrundet – Christoph Mörgeli, Hans Fehr und Ernst Schibli. Bemerkenswert: In der aktuellen, 74-köpfigen SVP-Fraktion politisieren neben 26 Vertretern mit mindestens elf Dienstjahren auch 28 Parlamentarier mit höchstens einer Legislatur. Die durchschnittliche Amtsdauer eines Fraktionsmitglieds sank nach den vergangenen Wahlen von 9.7 auf 7.6 Jahre, eine veritable Blutauffrischung. Die SP hat der SVP im Dienstalter-Ranking den Rang abgelaufen.
Wird der SP eine solche auch gelingen? Langjährige Nationalrätinnen sprechen im Hintergrund schon mal von «einem beschämenden Schauspiel» oder gar von einer «Hexenjagd auf die Amtserfahrensten».
Tatsächlich ist der Grat zwischen Sesselklebern und Zugpferden schmal: Das zeigt sich im Stöckli; dort also, wo die Persönlichkeit bisweilen mehr zählt als das Parteibuch. Es ist ein offenes Geheimnis, dass Parteichef Levrat altgediente Ständeräte im Pensionsalter regelrecht bekniet, nochmals anzutreten. (aargauerzeitung.ch)